Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat jetzt eine Entscheidung getroffen, die weitreichende Folgen für viele Unternehmen und ihre Angestellten haben dürfte. Teilzeitbeschäftigte haben demnach einen Anspruch darauf, bei Überstundenzuschlägen genauso behandelt zu werden wie ihre vollzeitbeschäftigten Kollegen – und zwar ab der ersten Überstunde. Eine Ausnahme ist nur dann zulässig, wenn sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.
In dem jetzt entschiedenen Fall geht es um eine Pflegekraft in Teilzeit, die bei einem ambulanten Dialyseanbieter beschäftigt war. Während die Frau regelmäßig Überstunden leistete und ein erhebliches Arbeitszeitguthaben anhäufte, blieben sowohl Zuschläge als auch Zeitgutschriften aus. Die Begründung ihres Arbeitgebers: Der Tarifvertrag sehe solche Regelungen nur für Vollzeitüberschreitungen vor. Insgesamt hatte die Frau, die 40 Prozent einer Vollzeitstelle abdeckte, rund 129 Überstunden angesammelt.
Das wollte sich die Pflegekraft nicht gefallen lassen und zog vor Gericht. Ihr Argument: Die Regelung benachteilige sie sowohl als Teilzeitkraft als auch als Frau, da der Großteil der Teilzeitbeschäftigten im Unternehmen weiblich war. Das Arbeitsgericht Fulda wies die Klage 2018 zunächst ab. In der Berufung vor dem hessischen Landesarbeitsgericht erhielt die Klägerin 2019 zwar die geforderte Zeitgutschrift, jedoch keine Entschädigung. Das BAG entschied jetzt zu Gunsten der Frau und stellte klar, dass die tarifliche Regelung Teilzeitbeschäftigte ohne sachlichen Grund benachteilige. Da beim Arbeitgeber überwiegend Frauen in Teilzeit tätig waren, sah das Gericht zudem eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts.
Entschädigung ja – aber viel weniger als gefordert
Zudem sprach das BAG der Klägerin auch eine Entschädigung aufgrund ihrer Benachteiligung als Frau zu. Die Höhe dieser Entschädigung hat aber wohl eher symbolischen Charakter: Anstelle der von ihr ursprünglich geforderten Summe in Höhe eines Vierteljahresverdienstes – rund 4500 Euro – erhält die Pflegerin lediglich 250 Euro. Die Begründung des BAG zur geringen Höhe der Entschädigung wirkt dabei fast putzig: Sie sei ausreichend, um einerseits den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen und andererseits gegenüber dem Beklagten „die gebotene abschreckende Wirkung“ zu entfalten.
Die allgemeinen Reaktionen auf das Urteil fallen trotz der sehr übersichtlichen Entschädigung sehr positiv aus. Arbeitsrechtlerinnen und Arbeitsrechtler sehen die Entscheidung als einen deutlichen Appell an Arbeitgeber und Tarifpartner, bestehende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen. So kommentiert Rechtsanwältin Katharina Dezelske auf Linkedin: „Richtige Entscheidung. Eigentlich hätte das selbstverständlich sein müssen. Eine Differenzierung dahingehend, dass für Mehrarbeit nur der Grundlohn gezahlt wird, ist meiner Einschätzung nach nur möglich, wenn es zum Beispiel die Definition einer Vollzeitwoche (40 Stunden) oder eine Höchstarbeitszeit pro Monat in Vollzeit gibt, und erst ab Überschreiten der Höchstzeit pro Monat Überstundenzuschläge gezahlt werden.“
Urteil beseitigt die Diskriminierung
Ähnlich positiv kommentiert Frank Holland, Leiter der Rechtsabteilung beim Handelsverband NRW: „Das Urteil beseitigt im entschiedenen Streitfall die diskriminierende Differenzierung. Ob sich auch Beschäftigte anderer Branchen mit Erfolg darauf berufen können, wird sich jeweils im Einzelfall zeigen.“
Michael Riedel, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Salary Partner bei der Kanzlei Advant Beiten sieht bei der Entscheidung noch andere Aspekte: „Viele Unternehmen werden sich umstellen müssen. Bestehende vertragliche/tarifliche Regeln sollten geprüft, die Klauseln zu Überstundenzuschlägen wenn nötig angepasst werden.“ Denkbar wäre auch, dass künftig weder für Vollzeit- noch für Teilzeitkräfte Zuschläge gezahlt würden. „Dies wäre gleichheitskonform, wenn auch nur selten praxistauglich“, meint Riedel.
Riedel geht sogar noch weiter: „Es drängt sich die Frage auf, ob die vom BAG vorgesehene neue Praxis nicht einer – sachgrundlosen – Benachteiligung von Vollzeitarbeitnehmern gleichkommt? Jene arbeiten – um im obigen Beispiel zu bleiben – schließlich von der 21. bis zu 40. Stunde zum Lohn von 25 Euro, während Teilzeitkräfte bereits ab Stunde 21 zukünftig 35 Euro erhalten.“ Sven Ringling vom Softwarehaus Orbis warnt vor weiteren möglichen Folgen des Urteils: „An praktische Konsequenzen denkt niemand. Zusammen mit dem Recht auf Teilzeit werden jetzt einige Menschen Teilzeit beantragen. Wissend, dass eh zu wenig Leute da sind, können sie auf Überstunden vertrauen.“
Info
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 5. Dezember 2024 – 8 AZR 370/20 –
Vorinstanzen: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 5 Sa 436/19 –
Arbeitsgericht Fulda, Urteil vom 9. November 2018 – 1 Ca 106/18
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.