Die Mindestlohnrichtlinie der EU, verabschiedet im Oktober 2022, steht unter Beschuss. Ein aktuelles Gutachten des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) wirft Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Regelung auf und sieht die Kompetenzen der EU im Bereich der Lohnfindung überschritten. Sollte der EuGH dieser Einschätzung folgen, könnte dies weitreichende Folgen für die Sozialpolitik des Staatenverbundes haben.
Angestoßen hatte das Verfahren Dänemark, das derzeit auf Annullierung der Mindestlohnrichtlinie klagt. Schweden hat sich als sogenannter Streitbeihelfer dem Verfahren angeschlossen.
Rechtsgutachten als Wendepunkt
„Die Mindestlohnrichtlinie ist rechtswidrig“, erklärt Generalanwalt Nicholas Emiliou in seinen Schlussanträgen. Kern seiner Argumentation: Die EU greife unzulässig in die Lohnstrukturen der Mitgliedstaaten ein. „Der Bereich Entgelt ist explizit von den Kompetenzen der Union ausgenommen“, betont Emiliou und verweist auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Schon die in der Richtlinie geforderten Kriterien für die Bemessung von Mindestlöhnen seien ein unzulässiger Eingriff.
Obwohl das abschließende Urteil des EuGH noch aussteht, gilt das Gutachten als richtungsweisend. Die Luxemburger Richter folgen den Empfehlungen des Generalanwalts in der Regel. Sollte die Mindestlohnrichtlinie gekippt werden, wäre dies ein großer Einschnitt für die EU.
Juristische Uneinigkeit über die Mindestlohnrichtlinie
Zur Einschätzung des Generalanwalts gibt es allerdings auch Gegenstimmen. „Man könnte es auch genau umgekehrt sehen“, meint etwa Christina Hießl, Professorin für Arbeitsrecht an der KU Leuven. Ihrer Ansicht nach verlangt die Richtlinie nämlich lediglich die allgemeine Berücksichtigung bestimmter Kriterien bei der Festsetzung von Mindestlöhnen und greife nicht unmittelbar in Gehaltsstrukturen ein.
„Eigentlich ist die Richtlinie, wenn man es so will, nicht mehr als eine Art Verfahrensregelung“, urteilt auch Daniel Ulber vom Institut für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen in der EU. Er hat große Zweifel, dass der EuGH die Richtlinie fallen lasse, da sie „kein konkretes Entgelt vorgibt und nicht mal verpflichtet, einen Mindestlohn einzuführen.“
Obwohl das abschließende Urteil noch aussteht, gilt das Gutachten als richtungsweisend.
Anders sieht es Lena Rudkowski, Arbeitsrechtsprofessorin an der Universität Gießen. „Der AEUV schließt Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsentgelts aus, und genau dieses zu regeln – einen Lohnkorridor festzulegen – bezweckt ja gerade die Richtlinie“, schreibt sie. Aus ihrer Sicht gehe es darum, „unmittelbar Einfluss auf den Lohn zu nehmen und Mindestlöhne in der EU anzugleichen“.
Arbeitsrechtler Alexander Bissels von der Kanzlei CMS hat ebenfalls eine kritische Position zu der Richtlinie: „Mal sehen, was im Ergebnis rauskommt – die argumentative Luft, die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf die Richtlinie stützen zu wollen beziehungsweise zu können, wird immer dünner – und dies vollkommen zu Recht!“
Politische Positionen der Parteien
In Deutschland hat die Mindestlohnrichtlinie bereits vor dem Gutachten des Generalanwalts für Diskussionen gesorgt, wobei sich zumindest drei der „großen“ Parteien einig sind, dass die bestehende Regelung sinnvoll ist. Mehr noch: Die SPD fordert in ihrem Wahlprogramm bis 2026 einen Mindestlohn von 15 Euro, eine Zahl, die auch von den Grünen und der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi angestrebt wird.
Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro. Die Forderung nach einer Erhöhung stützt sich auch auf die derzeit zur Disposition stehende europäische Vorgabe, dass der Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianeinkommens liegen soll. Die CDU befürwortet grundsätzlich ebenfalls den allgemeinen Mindestlohn, er wurde ja auch unter Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeführt. Allerdings betonen die Christdemokraten in ihrem Wahlprogramm: „Lohnfindung muss weiterhin Sache der Sozialpartner sein und nicht der Politik.“
Eine andere Position nimmt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ein. Das IW sieht die Regelung und den Mindestlohn seit seiner Einführung im Jahr 2015 grundsätzlich kritisch und argumentiert, dass die Richtlinie „ein Einfallstor für weitere Regulierung“ darstelle. Zudem sei sie ein direkter Angriff auf die Tarifautonomie in Deutschland. Auch an einer Erhöhung auf 15 Euro lässt der IW kein gutes Haar: „Auf dieser Art vermeintlichem Gerechtigkeitswahlkampf liegt kein Segen. Bislang ist die Bundesrepublik mit ihrer Tarifpartnerschaft gut gefahren – sie aufs Spiel zu setzen, ist fahrlässig“, kritisiert Hagen Lesch, Leiter des IW-Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik.
Umsetzung stockt in den Mitgliedstaaten
So richtig durchgesetzt hat sich ein allgemeiner Mindestlohn in Europa indes noch nicht. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) kritisiert zum Beispiel scharf, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten die Frist zur Umsetzung der Richtlinie verpasst hat. „Es ist schockierend, dass so viele Regierungen ihre Versprechen gegenüber den Arbeitnehmern von vor zwei Jahren nicht eingehalten haben“, sagt Tea Jarc, Generalsekretärin des EGB. Bislang haben nur acht Länder, darunter Deutschland und Schweden, die Regelung ratifiziert. Andere Staaten wie Frankreich, Polen und die Niederlande hinken noch hinterher.
Laut Jarc seien einige Regierungen sogar dabei, „faire Bezahlung und Tarifverhandlungen zu untergraben“. In Lettland plane die Regierung etwa, Unternehmen die einseitige Rücknahme von Tarifverträgen zu erlauben, während Luxemburg versuche, Gewerkschaften in Tarifverhandlungen zu umgehen.
Eingeschränkter Handlungsspielraum beim Mindestlohn
Sollte die Mindestlohnrichtlinie tatsächlich fallen, könnte dies den Handlungsspielraum der Union in sozialen Fragen massiv einschränken. „Eine entsprechende Entscheidung des EuGH würde politische Maßnahmen der Union in diesem Bereich für die Zukunft praktisch unmöglich machen und zwar selbst dann, wenn es nicht um verbindliche Vorgaben, sondern nur um eine Koordinierung der Mitgliedstaaten geht“, urteilt in diesem Zusammenhang Daniel Ulber.
Für Deutschland könnte das Aus der Richtlinie bedeuten, dass die Politik die rechtlichen Grundlagen des geltenden Mindestlohns neu aufsetzen müsste. Für Zündstoff im Wahlkampf ist in den kommenden Wochen jedenfalls gesorgt.
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.