„Wir brauchen eine Steigerung der Arbeitsstunden von den Menschen, die bereits hier arbeiten“, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger jüngst beim FDP-Wirtschaftskongress. Er reiht sich in eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Arbeitgeberseite ein, die für eine Arbeitszeiterhöhung plädieren, um den sich zuspitzenden Fachkräftemangel zu verringern.
Doch dieser Wunsch steht konträr zur realen Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Zwar haben Beschäftigte in Deutschland insgesamt noch nie so viel gearbeitet wie 2023. Doch die individuelle Arbeitszeit war auch noch nie so gering. Wie die jüngste Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, arbeiteten abhängig Beschäftigte (Selbstständige sind – im Gegensatz zur Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das auf eine noch höhere Zahl kommt – hier nicht mitinbegriffen) im vergangenen Jahr insgesamt 55 Milliarden Stunden. Zum Vergleich: 1991 waren es noch 52 Milliarden. Dieser Anstieg basiert allerdings einzig und allein darauf, dass mehr Menschen erwerbstätig sind – und hier besonders aus dem Anstieg an Arbeitnehmerinnen.
Schaut man sich nämlich hingegen an, wie viel jede und jeder einzelne Erwerbstätige pro Woche arbeitet, haben sich die Zahlen in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 1991 noch bei 38,54 Stunden, sind 2022 Menschen in der Bundesrepublik im Schnitt 34,7 Stunden ihrem Job nachgegangen. Das ist ein Problem: Denn wenn aufgrund des demografischen Wandels in der Zukunft weniger Menschen erwerbstätig sind, müsste die verbliebene geringere Anzahl an Beschäftigten mehr Stunden pro Woche arbeiten, um die anfallende Arbeit zu erledigen – so zumindest die Annahme von Dulger und Befürworterinnen sowie Befürwortern der Arbeitszeiterhöhung. Damit dies gelingt und der Trend zu einer Arbeitszeitverringerung unterbrochen wird, gibt es einige Ansätze. Doch was bringen diese wirklich?
Kinderbetreuungsangebote verbessern
Laut der DIW-Studie könnte die Arbeitszeit vor allem dadurch erhöht werden, dass Frauen zur Vollzeitarbeit motiviert werden. Die Hälfte der erwerbstätigen Frauen arbeitet demnach aktuell in Teilzeit. Ein Grund dafür seien alte Rollenmuster und politische Rahmenbedingungen, heißt es seitens des DIW. Frauen würden sich oftmals um die Care-Arbeit kümmern und so keine Zeit für eine Vollzeitstelle haben. Die logische Schlussfolgerung: In Deutschland müssen die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden. Laut DIW besuchten 36 Prozent der Unter-Dreijährigen 2022 eine Kinderbetreuung, während 43 Prozent der Eltern sich eine solche Betreuung wünschten. „Wir brauchen Investitionen in Kitas, Schulen und die Tagespflege“, sagte auch Saskia Esken, Parteivorsitzende der SPD, jüngst. Nur so gelinge es, Frauen noch stärker in der Arbeitswelt agieren zu lassen.
So wirksam wie dieser Gedanke klingen mag, ist er vielleicht doch nicht. Forschungsergebnisse der Wissenschaftlerinnen Geske Rolvering von der Universität Passau und Katrin Huber, Universität Potsdam, zeigen: Mehr Kitaplätze ermutigen Mütter zwar dazu, nach der Geburt ihrer Kinder wieder arbeiten zu gehen, allerdings nicht in Vollzeit. Im Detail fanden sie heraus: In Regionen, in denen es mehr Kitaplätze gibt, kehren Mütter zwei Jahre nach der Geburt zu einer 5,5 Prozentpunkte höheren Wahrscheinlichkeit zurück in den Beruf als in Regionen mit einer dünnen Betreuungsdecke. Auf die Anzahl der Mütter, die in Vollzeit arbeiten, wirkt sich das Angebot der Kinderbetreuung nicht aus. Zudem müsste man natürlich das zusätzliche Personal für die Pflege und Betreuung finden, was in Zeiten des Fachkräftemangels auch problematisch sein sollte.
Ehegattensplitting und Reform der Minijobs
DIW-Wissenschaftler Mattis Beckmannshagen sieht in der Reform des Ehegattensplittings eine weitere Möglichkeit, um insbesondere Frauen zu höheren Wochenarbeitsstunden zu motivieren. Aktuell gibt das Ehegattensplitting vielen verheirateten Paaren einen Steuervorteil. Dieser wird größer, je höher die Differenz der individuellen Einkommen ist. In vielen Fällen lohnt es sich deshalb aus steuerrechtlicher Sicht nicht, wenn ein Teil des Paares die Arbeitszeit und damit auch das Einkommen erhöht.
Unter anderem die Bertelsmann-Stiftung plädiert deshalb für ein „Realsplitting“, wobei beide Eheleute getrennt veranlagt werden. Insgesamt würde sich damit ein höherer Verdienst für die Person, die weniger Einkommen erhält, eher lohnen.
Viele Frauen arbeiten zudem in Minijobs, die nicht von Sozialabgaben betroffen sind. Erhöhen sie die Arbeitszeit so weit, dass sie über der Minijob-Grenze liegen, macht sich das auf dem Konto kaum bemerkbar. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bertelsmann-Stiftung schlagen deshalb vor, dies zu ändern und einen schrittweisen Anstieg der Sozialversicherungsabgaben einzuführen, wenn eine Person ihre Arbeitszeit nur um wenige Stunden erhöht und somit einkommenstechnisch über die Minijobgrenze gelangt.
Inwieweit diese Änderungen zu einer Arbeitszeiterhöhung beitragen, ist ungewiss. Eine Analyse des Steuerberaters Malte Chirvi aus dem Jahr 2021 liefert erste Einschätzungen. Er hat die Arbeitszeit verheirateter Frauen in den zwei Jahren vor und nach der Hochzeit mit der Arbeitszeit unverheirateter, aber in eheähnlichen Beziehungen lebenden Frauen verglichen. Das Ergebnis: Wenn die Frauen keine Kinder bekommen, reduzieren frisch verheiratete Frauen ihre Arbeitszeit nicht anders als Frauen in eheähnlichen Beziehungen. Doch: Frauen, die kurz vor oder nach der Trauung ein Kind bekamen, senkten ihre Arbeitszeit deutlich stärker als Mütter, die nicht geheiratet haben. Die Abschaffung des Ehegattensplittings würde damit womöglich nur Mütter zur Mehrarbeit motivieren, nicht aber verheiratete Frauen generell.
In Weiterbildung investieren
Es sind nicht Mütter, die sich laut DIW-Analyse am häufigsten über Unterbeschäftigung beschweren und sich somit wünschen, mehr Stunden pro Woche zu arbeiten. Am ehesten ihre Stundenanzahl erhöhen möchten Minijobber, Menschen ohne Abschluss und Hilfsarbeitskräfte. Damit wird deutlich: Die Unterbeschäftigung sinkt mit zunehmendem Qualifikationsniveau. Fachkräfte möchten folglich tendenziell nicht mehr arbeiten, Menschen mit geringen Qualifikationen schon. Ein möglicher Weg, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, könnte es sein, in ihre Weiterbildung zu investieren. Und hier gibt es noch Nachholbedarf. Seit 2018 steigt der Anteil der 20- bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss kontinuierlich und lag laut Zahlen des Bundesinstituts für Berufsbildung 2022 bei 19,1 Prozent (oder 2,86 Millionen Menschen). Gleichzeitig wünschen sich laut Bertelsmann-Stiftung und Wissenschaftszentrum Berlin weitaus mehr Beschäftigte in Helferjobs eine Weiterbildung, als sie diese bekommen (ein Drittel gegenüber einem Zehntel).
Bürgergeld kürzen
“Wir müssen in Deutschland aufhören, immer mehr Geld zu zahlen, wenn Menschen nicht arbeiten. Das Ziel muss sein, dass jeder, der arbeiten kann, auch arbeitet”, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) vor Kurzem im Interview mit der Stuttgarter Zeitung. Die Erhöhung der Bürgergeldes halte er für zu hoch. Diese Meinung passt zu Medienheadlines, die fragen: “Lohnt es sich noch, zu arbeiten?”.
Sollte also das Bürgergeld gekürzt werden, um Menschen dazu zu motivieren, mehr zu arbeiten? Bisherige Erkenntnisse sprechen dagegen. Die Erhöhung des Bürgergeldes hat nicht zu einer Kündigungswelle geführt, sondern laut Bundesregierung so wenige Menschen 2023 vom regulären Arbeitsmarkt in die Grundsicherung gerutscht sind wie noch nie seit der Einführung von Hartz IV 2005. Berechnungen des ifo-Instituts zeigen zudem: “Arbeit führt in Deutschland immer zu höheren Einkommen als Nichtstun.” In wenigen Fällen sei die Differenz zwischen Bürgergeld und Einkommen allerdings gering.
Überstunden steuerlich begünstigen
Die FDP hatte jüngst vorgeschlagen, Überstunden steuerlich zu begünstigen oder ganz steuerfrei zu machen. So sollte Menschen Lust gemacht werden, länger zu arbeiten. Das Problem hierbei: Vielerorts werden Überstunden gar nicht bezahlt. Für 702 Millionen zusätzlich zum eigenen Gehalt geleistete Stunden gab es 2022 kein Geld. Davon abgesehen könnte der Vorschlag dazu führen, dass mehr Menschen in Teilzeit gehen. „Verrückte Ideen wie steuerfreie Überstunden laden gerade dazu ein, entweder Vollzeitarbeit zu verdrängen oder die geschlechterungleiche Verteilung von Arbeit noch weiter anzukurbeln“, sagte DGB-Chefin Yasmin Fahimi den Zeitungen der Funke Mediengruppe dazu. Gleichzeitig könnte der Vorschlag aus Sicht des betrieblichen Gesundheitsmanagements sowie des Arbeitsrechts problematisch sein.
Großer Wunsch nach mehr Freizeit
All diese Überlegungen ignorieren, dass ein Großteil der Menschen, die in Teilzeit arbeiten, dies möchte. Laut dem Statistischen Bundesamt haben 27 Prozent der Teilzeitarbeitskräfte ihre Arbeitszeit reduziert, um mehr Raum für Freizeit und Hobbys zu haben. 24 Prozent arbeiten in Teilzeit, um sich um Angehörige und Kinder zu kümmern. Mehr als zwei Drittel derjenigen, welche diese Art von Care-Arbeit übernehmen, möchten die Betreuung selbst übernehmen, auch wenn Geld dabei keine Rolle spiele und es Pflege- und Betreuungsmöglichkeiten gebe.
Und vielleicht wird genau deshalb der Trend zur Arbeitszeitverringerung anhalten, statt sich umzukehren. Denn der Wunsch nach weniger Arbeitsstunden ist laut zahlreicher Studien groß – auch wenn das bedeutet, am Ende des Tages weniger Geld in der Tasche zu haben. Laut DIW-Panel aus dem März 2023 möchten die Deutschen im Durchschnitt 32,8 Stunden pro Woche ihrem Beruf nachgehen. Und das wären nochmal zwei Stunden weniger als aktuell.
Ob deshalb Aussagen wie die von Rainer Dulger oder die genannten Bestrebungen zur Arbeitszeiterhöhung diesen Trend umkehren können, erscheint fraglich. Vielleicht muss dafür erst der Wohlstand wirklich spürbar weniger werden – oder wir arbeiten an der Produktivität. Und die steigt – darauf weisen erste Erkenntnisse aus Feldversuchen zur Vier-Tage-Woche – in vielen Fällen an, wenn Stunden reduziert werden.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.