Wie oft musste sich HR in jüngster Vergangenheit des Vorwurfs erwehren, bei der Digitalisierung hoffnungslos gegenüber Marketing, Vertrieb oder dem Einkauf zurückzuliegen? In der Tat ist es für Personalabteilungen laut einer Studie des Softwareherstellers Aconso nicht leicht, Schritt zu halten. Grund: Während sie ihre teilweise von übermäßiger Bürokratie beeinträchtigten Prozesse verschlanken und ihren Kooperationspartnern sowie Führungskräften und Mitarbeitenden endlich modernisiert und digital zur Verfügung stellen wollen, sind sie jedoch vom anhaltenden Fachkräftemangel betroffen. Sogar im eigenen Beritt: Woher soll man bloß die händeringend benötigten Personalexpertinnen und -experten beschaffen, die in IT-Belangen sattelfest sind? Eine Lösung für dieses Dilemma verspricht No Code und Low Code (NCLC).
Der Markt für solche Plattformen entwickelt sich unbemerkt, ohne viel Tamtam. Das Reizvolle: NCLC befähigt Personalerinnen und Personaler, Prozesse zu digitalisieren, ohne zunächst mühsam eine Programmiersprache erlernen zu müssen. Praxisbeispiele, wie sich NCLC für HR anbietet, gibt es zuhauf. Zu berücksichtigen ist dabei stets, dass es sich um standardisierte Vorgänge handelt, die täglich anfallen und vielen Personen dienen. Wie etwa ein vorbereiteter Plan fürs Onboarding neuer Mitarbeitender oder eine sich selbst aktualisierende Übersicht, die alle Entwicklungsschritte von Beschäftigten über einen bestimmten Zeitraum zusammenfasst.
Monotone Tätigkeiten kosten Produktivität
Der Vorteil von NCLC liegt auf der Hand: Werden damit Abläufe mit eher repetitivem Charakter digitalisiert, sparen die Beteiligten Zeit – eine wichtige Voraussetzung, um die Produktivität wie eben von der jeweiligen Chefetage erwünscht zu erhöhen. Immerhin büßen Beschäftigte nach einem Bericht des „Harvard Business Review“ ein Fünftel ihrer Produktivität wegen monotoner Tätigkeiten ein. Und staubtrockene, gähnend langweilige Aufgaben – man könnte auch Bullshit sagen – gibt es in HR mehr als genug. NCLC eröffnet zudem mehr Flexibilität. Ändern sich Anforderungen, lassen sich die Lösungen rasch anpassen.
Nicht allein zur Freude des jeweiligen Fachbereichs wie etwa HR. Sondern auch zur Entlastung der notorisch um Ressourcen verlegenen IT, was sich in zweifacher Hinsicht erweist: weil Personalerinnen und Personaler ihre Prozesse selbst digitalisieren und zweitens, weil sie – theoretisch – sogar komplexe Anwendungen rasch in hoher Qualität erstellen können. Schätzungen zufolge soll dies zehnmal schneller gelingen als bei herkömmlicher Softwareentwicklung. Wenn das kein Argument für die Investition in NCLC ist: „Ein Befreiungsschlag aus dem Strudel des Kapazitätsengpasses“ heißt es nicht ganz uneigennützig in einer Studie des Softwarehauses Escriba, das selbst eine Plattform anbietet.
Drag and Drop
Konkret vorstellen kann man sich eine No-Code- oder Low-Code-Plattform wie einen Lego-Baukasten. Statt Steinchen sind darin fertig programmierte Vorlagen enthalten, die per „Drag and drop“ zu Apps oder sonstigen Softwarelösungen zusammengesetzt werden. Jeglicher Codierungsaufwand entfällt, heißt es. Das klingt wie ein Kinderspiel: Am besten geeignet, um solche Lösungen zu entwickeln, sind technisch interessierte Anwender ohne fundiertes IT-Know-how oder mit ersten Programmiererfahrungen. Solche „Citizen Developer“ genannten Anwender haben inzwischen die Wahl zwischen zahlreichen Plattformen. Die amerikanischen IT-Auguren von Gartner haben erst jüngst in einem „Magic Quadrant“ die führenden Anbieter abgebildet. Beurteilt nach ihrem Vermögen, bestmöglich auf die Anforderungen der Kundschaft einzugehen (Ability to Execute), dominieren Siemens mit Mendix und Microsoft mit MS Power Apps klar den Markt, gefolgt von Salesforce mit dem Lightning App Builder als sogenanntem Herausforderer sowie Appian als „Visionär“. Auch SAP schlägt sich tapfer. Auffallend ist, dass die großen IT-Player vorn sind. Warum?
Sie kaufen gezielt Start-ups, die mit No Code und Low Code auf sich aufmerksam machen. So übernahm SAP im Jahr 2021 das Start-up AppGuyver aus Helsinki und taufte es in SAP Build Apps um. Dass die Digitalisierung quasi im Do-it-yourself-Verfahren möglich scheint, kommt dem breiten Mittelstand wie gerufen. Viele Betriebe können beim Recruiting von IT-Fachkräften nicht mit Konzernen und namhaften Unternehmen aus der Digitalbranche mithalten. Wenn aber zumindest der Einstieg in die moderne technisch geprägte Arbeitswelt – wie sie schließlich von immer mehr Beschäftigten erwartet wird – per NCLC möglich ist, lassen sich auch KMU diese Chance nicht entgehen. Dabei kommen ihnen die Plattformanbieter entgegen, beobachtet Manuel Heid vom Mittelstand-Digital Zentrum-Kaiserslautern: „Viele Anbieter bieten kostenlose Einstiegsversionen an und berechnen später nach Anzahl der Anwender.“
Die Zahlen sprechen für sich
Und diese Entwicklung lässt sich auch aus aktuellen Marktdaten ablesen. Laut der Studie „No-Code/Low-Code 2023“ der Fachzeitschrift „Computerwoche“ setzen bereits rund 46 Prozent der Unternehmen No-Code-Plattformen und 50 Prozent Low-Code-Plattformen ein. Damit liegen sie gleichauf mit klassischen Software-Entwicklungsplattformen (51 Prozent). Oft gelingt Citizen Developern, die sich zunächst mit No Code anfreunden, sich zu fachlich beschlagenen Low-Code-Experten zu entwickeln. Hatten sie zunächst anhand einer benutzerfreundlichen No-Code-Plattform vielleicht Besprechungskalender und To-do-Checklisten erstellt, wenden sie sich mit Low Code anspruchsvollen Entwicklungsschritten zu.
Anspruchsvoll im Sinne professioneller Softwareentwicklung bedeutet freilich, dass Anwendungen in HR oder anderen Fachbereichen auf ein grundlegendes Datenmodell angewiesen sind. Ferner müssen sie permanent die Benutzeroberfläche anpassen, wenn die Anwendung sinnvollerweise mit anderen Systemen integriert werden soll, etwa um Personaldaten aus anderen Quellen heranzuziehen. Per Drag and Drop ist das nicht möglich. Hier geht es um synchrone Integration: Nur wenn es gelingt, erforderliche Daten in Echtzeit über die Schnittstelle (API) anderer Systeme aufzurufen, kann man auf diese Daten auch zugreifen und sie anzeigen.
Man sieht: So unkompliziert, wie es gelegentlich den Anschein hat, ist NCLC dann doch nicht. In der Praxis läuft es bei munterem Gebrauch von solchen Plattformen darauf hinaus, dass die Anwendungsvielfalt sowie der Bedarf nach grundlegender Integration in weitere firmenübergreifende Lösungen wächst. Wer will schon miteinander inkompatible Datensilos errichten? Spätestens wenn die IT-Sicherheit tangiert ist, wird es für Citizen Developer Zeit, eng mit der internen oder externen IT zusammenzuarbeiten – in sogenannten Fusion Teams.
Logischer Schritt zu No Code?
Dass am Ende doch wieder alles in Händen der IT landen könnte, scheint im Mittelstand kaum jemanden zu stören. Heid zumindest findet, dass gerade für jene Unternehmen, die bereits Erfahrungen mit Baukasten-Programmen gesammelt haben, um etwa Websites zu gestalten, „der Schritt zu No Code und Low Code logisch ist“. Jene Firmen, die noch zaudern, könnte womöglich die Künstliche Intelligenz umstimmen. Wie das Beispiel von ChatGPT zeige, erläuterte KI-Experte Heid in einem Podcast mit dem RKW-Kompetenzzentrum, könnten solche Technologien rasch viele Menschen erreichen und somit auch sinnvolle Lösungen in Unternehmen ermöglichen.
Würde zum Beispiel Spracherkennung in die NCLC-Plattformen integriert, könne das vielleicht einen ähnlichen Effekt nach sich ziehen. Anders als es einige Marktinsider nahelegen, wird der Einsatz von No Code beziehungsweise Low Code kaum ohne Einbindung der IT-Fachbereiche möglich sein. Dies bekräftigt eine neue Studie von Techconsult im Auftrag des Softwarehauses USU. Demnach gestaltet sich die Anwendungsentwicklung mit solchen Plattformen für etwa ein Drittel der IT-Mitarbeitenden deutlich schwieriger als erwartet. Zugleich geben 40 Prozent der Beschäftigten aus IT-fernen Fachbereichen an, die Entwicklungsdauer mit NCLC-Plattformen unterschätzt zu haben.
Wenn es nicht ohne IT geht, sollten Fachbereiche wie HR dafür sorgen, dass man auch an einem Strang zieht. NCLC-Lösungen erfolgreich zu implementieren, betont Techconsult-Analyst Waldemar Klassen, hänge auch von der Fähigkeit der Unternehmen ab, „eine Brücke zwischen den IT-Abteilungen und den Fachbereichen zu schlagen“. Doch wer mag schon die IT, wer erst HR? Nirgendwo herrscht eitel Sonnenschein. Ob sich Personalerinnen und Personaler endlich mit ihrem Gegenüber zusammenraufen und ihre Vorurteile über Bord werfen, was auch vice versa der IT abverlangt wird, bleibt also spannend zu beobachten.
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