„Warum tue ich mir nur so schwer mit dieser Präsentation? Niemand sonst auf meiner Ebene und mit meiner Erfahrung hat dieses Problem!“ „Augen zwei Jahre lang zu und durch. Dann wird das schon, mit diesem Projekt.“ „Mein Kick-Off wird eh nicht klappen, wiedermal. Ich bin einfach zu blöd für diese Art von Verantwortung!“ Kennen Sie diese oder ähnliche Sätze? Vielleicht sogar von sich selbst?
Viele von uns gehen auf eine Weise mit sich um, prangern sich selbst für eigene Macken, Fehler und Defizite an, tatsächliche und vermeintliche, wie sie es mit anderen Menschen nie und nimmer tun würden.
Zwar mag uns diese/dieser innere Oberbefehlshaberin/Oberbefehlshaber – nach meiner Erfahrung bei Frauen besonders häufig und besonders streng – einiges im Leben ermöglicht haben. Durchhaltevermögen, hohe Ansprüche an sich selbst, nicht zu leicht zufrieden sein mit sich und eigener Leistung: Damit kann man es zu was bringen, in der Arbeit und im restlichen Leben.
Wer Frust ignoriert, kann an ihm krank werden
Doch wer zu hart mit sich ins Gericht geht, grübelt möglicherweise zu lang über Fehler – anstatt sie als Lernchancen zu begreifen. Wer Frust, Kummer, Schmerz ignoriert, kann an ihm krank werden – am Magen, am Rücken, im Kopf. Und wer sich selbst gnadenlos abbügelt, tut das möglicherweise auch bei anderen – oder ist möglicherweise ein gnadenloses Vorbild für Mitarbeitende, Kolleginnen oder die eigenen Kinder. Wollen Sie das? Eben.
Laut einer Studie, die im Harvard Business Review veröffentlicht wurde, würden sehr viele Führungskräfte gerne mehr Mitgefühl üben – wissen aber gar nicht, wie. Eines der spannendsten aktuellen Konzepte aus der Positiven Psychologie, das bislang zu wenig Eingang in die Arbeitswelt gefunden hat, kann dabei helfen. Es geht dabei um das so genannte Selbstmitgefühl, eine Art innerer Komplizenschaft, ein zugewandter konstruktiver Umgang mit dem eigenen Sein und Tun.
Was Sie über Selbstmitgefühl wissen sollten, was es Ihnen und Ihrer Arbeitsumgebung nützen kann, wie Sie es fördern können – dazu hier einige Anregungen.
Wozu überhaupt Selbstmitgefühl?
Der innere Kritiker reitet nach meiner Erfahrung aus Coachings und Trainings Führungskräfte und HR-ExpertInnen besonders oft und besonders hart. Denn es sind ja gerade die Menschen, die etwas verändern und verbessern wollen, die sich nicht so leicht zufrieden geben mit dem Status Quo, die in Führungsverantwortung oder in die Personalabteilung gehen, um etwas zu verändern. Wer aber zu viel zu negatives Selbstgespräch mit sich führt, wer zu selten in einem inneren Ja zu sich steht, ist anfälliger für Perfektionismus, Prokrastination, Dauergrübeln, niedrigen Selbstwert und sogar für depressive Erkrankungen, das zeigen Studien. Niedrigere Leistungsfähigkeit, geringere Wahrscheinlichkeit, Ziele zu erreichen, schlechtere Gesundheitswerte, weniger erfüllende Beziehungen: das können weitere Folgen sein.
Selbstmitgefühl hingegen, das hat vor allem die Schöpferin des Konzeptes Dr. Kristin Neff erforscht, kann dazu beitragen, dass Sie
- weniger Stress erleben
- seltener an Angststörungen oder depressiven Symptomen erkranken
- gelassener mit Rückschlägen umgehen
- mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben
- und damit leistungsfähiger in der Arbeit werden.
Selbstmitgefühl, kein Selbstwert
„Ich find mich nur noch toll“, „alles, was ich anfasse, wird zu Gold“, „Ich bin die/der Größte“: Nein, ein übersteigerter SelbstWERT ist genau nicht das, was mit SelbstMITGEFÜHL gemeint ist. Ganz im Gegenteil. Denn Selbstwert misst uns stets an äußeren Erwartungen, setzt uns in den Vergleich mit anderen – und führt im Extremfall zu narzisstischer Selbstüberhöhung à la Donald Trump. Will keine, braucht keiner.
Auch wäre es ein Missverständnis, Selbstmitgefühl als ein jammerlappiges, egotrophes ständiges um-sich-selbst-Kreisen zu begreifen, ein Versinken in Selbstmitleid à la: „Ich Armer bin gestern schon wieder von meiner Chefin kritisch angeschaut worden“, oder „dafür dass ich heute zwei Mails geschrieben habe, hätte mich mein Vorgesetzter schon mehr loben dürfen“. Nein, Selbstmitgefühl meint etwas anderes, kraftvolleres, aktiveres. Es meint eine Art inneres Unterhaken, das uns souveräner umgehen lässt mit inneren und äußeren Anfeindungen. Und es meint im wesentlichen drei Dinge:
- Achtsamkeit im Umgang mit eigenen Verletzungen, Fehlbarkeiten, Mängeln. Eine Haltung von „Autsch, das ärgert/schmerzt/enttäuscht mich jetzt“. Statt permanentem Weglächeln, sarkastischem Überspielen oder blanker Verleugnung, statt Achtlosigkeit, statt Über-Identifikation. Fragen Sie sich: Was genau sind meine aktuellen Gedanken, Gefühle? Wie kann ich sie erstmal nur benennen und beschreiben – möglichst ohne sie zu bewerten, ohne sie oder mich für sie abzuwerten, ohne sie zu verändern?
- Geteilte Menschlichkeit statt Isolation: Bin ich mit meinem Ärger, Frust, Zweifel wirklich alleine? Wem mag das in meiner aktuellen oder ähnlichen Situationen auch so oder ähnlich gehen? Wie kann ich mit wem in Verbindung gehen, weil sie oder er neulich auch mal eine Präsentation versemmelt, einen Fehler gemacht oder ähnliche Herausforderungen wie ich gerade zu bewältigen hat?
- Selbstfreundlichkeit statt Selbstverurteilung: Wenn ich jemand anderem, die oder der in der gleichen Lage wäre wie jetzt ich, geduldig, freundlich und verständnisvoll gegenübertreten würde, was würde ich dann sagen oder meinen? Und welche dieser Gedanken, Handlungen, (inneren) Sätzen könnte ich mir selbst zukommen lassen?
Vielleicht gibt es ja eine Körperbewegung, eine Geste, mit der Sie diese drei Aspekte von Selbstmitgefühl für sich selbst ausdrücken und verankern können – zwei Hände über der Brust, den Ehering dreimal nach links drehen oder eine Art aufmunterndes Mir-selbst-auf-die-Schulter-Klopfen, zum Beispiel? Oder einen Satz, eine Art Mantra? Üben Sie diesen Anker immer mal wieder, auch in banalen Situationen, vor dem Zähneputzen, beim Anschalten des Rechners oder ähnlichem. Dann können Sie sie auch in herausfordernden Momenten leichter abrufen – und vor allem die mit der Situation verbundenen unangenehmen Gefühle vielleicht ein Stück besser bewältigen.
Selbstmitgefühl in der Organisation verankern
Und wenn Sie Selbstmitgefühl in Ihrer Organisation verankern und stärken wollen? Es gibt inzwischen zahlreiche Online-Kurse, Meditationen oder Apps zu Selbstmitgefühl. Die meisten Coachinnen und Trainer, die sich mit Positiver Psychologie auskennen, können in Einzel- oder Gruppensettings Selbstmitgefühl als Technik vermitteln und einüben. Unter dem Stichwort „Self-compassion break“ finden Sie im Internet Anleitungen, um etwa zum Beginn von Meetings eine kurze Fokus-Übung zum Thema Selbstmitgefühl gestalten zu können.
Wer außerdem zu Fuck-Up-Nights oder ähnlichen Formaten einlädt, bei denen über Mängel, Fehleinschätzungen und Defizite offen und ehrlich gesprochen werden kann, stärkt damit vor allem die zweite Säule von Selbstmitgefühl, nämlich die geteilte Menschlichkeit. Auch wenn Sie Ziele – etwa über die OKR-Systematik – so definieren, dass Partizipation und Erreichbarkeit sichergestellt sind, ohne dass sich quasi zwangsläufig ein permanentes Gefühl von „schaffen wir nicht“, „sind wir zu blöd für“ oder ähnliches einstellt, kann das einen Nährboden für mehr Selbstmitgefühl schaffen. Und wer gerade als Führungskraft Hilfe anbieten, um Unterstützung bitten und Hilfsangebote annehmen kann, die oder der gibt damit buchstäblich ein Vor-Bild in Sachen Selbstmitgefühl ab.
Viel Erfolg und Freude dabei!
Christian Thiele ist Autor und Coach für positive Leadership. Sein Buch „Positiv führen für Dummies“ ist gerade im Wiley-Verlag erschienen, sein Podcast „Positiv Führen“ lässt sich auf allen großen Podcast-Plattformen abrufen.
https://positiv-fuehren.com/