Aktuelle Ausgabe

Newsletter

Abonnieren

Warum mehr Arbeit nicht unbedingt mehr Leistung bedeutet

Artikel anhören
Artikel zusammenfassen
Teilen auf LinkedIn
Teilen per Mail
URL kopieren
Drucken

Wer beim Touristikunternehmen TUI Karriere machen will, muss dafür nicht unbedingt Überstunden machen. Bei TUI sei es nämlich nicht nötig, dauerhaft überdurchschnittlich viel Arbeitszeit zu investieren, um in die Spitzenpositionen mit hohem Einfluss und guter Bezahlung aufzusteigen, erklärte jetzt Personalvorständin Sybille Reiß gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Mehr noch: „Man muss nicht mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten, um Vorständin zu werden“, betonte die 48-Jährige, die für etwa 70.000 Mitarbeitende verantwortlich ist. Viel wichtiger sei es, die eigene Arbeitszeit effizient zu nutzen.

Klare Kante zeigt Reiß, die seit 2021 bei TUI im Vorstand sitzt, auch angesichts der Ankündigung verschiedener Unternehmen, ihre Angestellten vermehrt ins Büro zurückzuholen. „Ich kenne keine Studie, die belegt, dass eine von oben verordnete Anwesenheitsquote im Büro oder am Arbeitsplatz die Produktivität erhöht.“ Entsprechende „Back to office“-Pläne gäbe es bei TUI nicht.

Unternehmen wie zum Beispiel der Softwareriese SAP sind in jüngster Vergangenheit den entgegengesetzten Weg gegangen: Vorstandschef Christian Klein ordnete an, dass die Mitarbeitenden ab sofort wieder mindestens drei Tage pro Woche im Büro verbringen sollten. Zwar hat der SAP-Betriebsrat inzwischen im Wege einer einstweiligen Verfügung eine Lockerung dieser Vorgabe erwirkt, vom Tisch ist der Homeoffice-Streit bei SAP damit noch lange nicht. Immerhin: Überstunden und Mehrarbeit stehen bei dem Walldorfer Unternehmen derzeit nicht auf der Agenda.

Arbeitnehmer machen immer weniger Überstunden

Mit ihrer Einschätzung zum Thema Überstunden steht TUI-Personalvorständin Reiß offenbar nicht alleine da. Der Trend ist eindeutig: Immer weniger Menschen in Deutschland leisten Mehrarbeit. So machten im Jahr 2023 die Arbeitnehmenden in Deutschland laut Statistikportal statista.de rund 583 Millionen bezahlte und rund 702 Millionen unbezahlte Überstunden. Im Vergleich zum Jahr 2022 sei die Zahl der geleisteten Überstunden damit um rund 100 Millionen zurückgegangen, heißt es. Schaut man noch weiter in die Vergangenheit, wird es noch eindeutiger: 2001 waren es 909 Millionen bezahlte und 1,2 Milliarden unbezahlte Überstunden.

Paradoxerweise wird laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge allerdings so viel gearbeitet wie noch nie. Die abhängig Beschäftigten kamen im vergangenen Jahr auf insgesamt rund 55 Milliarden Stunden, hat das DIW in einer Studie ermittelt. Das sei der höchste Wert seit der Wiedervereinigung. 1991 waren es danach noch 52 Milliarden Stunden, auf dem Tiefpunkt 2005 sogar nur 47 Milliarden Stunden.

„Das Gesamtarbeitsvolumen ist vor allem gestiegen, weil immer mehr Frauen erwerbstätig sind“, so Mattis Beckmannshagen, der beim DIW für die Studie verantwortlich zeichnet. „Allerdings ist fast die Hälfte der Frauen in Deutschland teilzeitbeschäftigt, obwohl einige gern mehr arbeiten würden.“ Ihr Potenzial für den Arbeitsmarkt bleibe also teilweise ungenutzt. Die hohe Teilzeitquote führe zu der geringen durchschnittlichen Arbeitszeit aller Beschäftigten von 34,7 Wochenstunden.

„Zehn Stunden konzentrierter Arbeit sind unrealistisch“

Dass es sowohl für die Angestellten als auch für die Unternehmen nicht unbedingt Sinn macht, über die Maßen zu arbeiten, hat Simon Werther, Psychologe und Professor an der Hochschule München und Mitglied der Forschungsgruppe New Work herausgefunden. Für ihn gilt beim Thema Überstunden: „Das kommt auf die Arbeit an. Aber man kann schon sagen: Zehn Stunden konzentriert zu arbeiten ist absolut unrealistisch.“ Vielmehr ist für ihn die Arbeitsorganisation entscheidend: „Man muss auch immer an der Arbeitsorganisation ansetzen und zum Beispiel schauen, was sich digitalisieren und automatisieren lässt, um die Dichte der Arbeitstage zu entzerren, wenn man ein oder zwei Stunden am Tag länger arbeitet.“

Gerade in Zeiten von flexiblen Arbeitswelten brauche es außerdem mehr Handlungsorientierung. „Denn es wird mehr Situationen geben, die nicht ganz klar sind, für Teams und Führungskräfte.“ Nur flexibler und weniger arbeiten zu können, heiße nicht, automatisch zufriedener zu sein.

Kultureller Wandel oder eine Frage der Branche?

Welcher Mitarbeitende wie viele Überstunden macht, ist allerdings auch eine Frage der Branche. Hochdotierte Juristinnen und Juristen in Großkanzleien oder Angestellte der großen Beratungshäuser werden bei der Frage nach einer 40-Stunden-Woche nur müde lächeln. Dort gilt nach wie vor die Regel: Nur wer viel arbeitet, erreicht auch viel. Laut einer Studie des Forschungsinstitutes für Arbeit steigen in diesen Branchen die Chancen auf Spitzenpositionen signifikant, wenn man mehr als die anderen Kollegen arbeitet. Auch das Arbeiten zu untypischen Zeiten (etwa am Abend oder in der Nacht) sei für den beruflichen Aufstieg in Spitzenpositionen vorteilhaft, heißt es.

Doch auch bei den Kanzleien und Beratungshäusern hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Zumindest, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht, kommen viele ihren Mitarbeitenden entgegen und bieten zum Beispiel betriebseigene Kitas oder flexible Arbeitszeitmodelle. Dazu passt auch, dass der Deutsche Anwaltverein (DAV) im Mai dieses Jahres ein Whitepaper mit dem Thema „Kanzlei und Kind. Klar geht das!“ veröffentlicht hat.

Das Fazit: Selbst in Branchen, bei denen Überstunden zum guten Ton gehören, kommt langsam die Erkenntnis an, dass es ohne eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Möglichkeit, weniger zu arbeiten, künftig noch schwieriger werden wird, das Personalproblem zu lösen. Hier liegt wohl auch der eigentliche Grund, in Sachen Arbeitszeit auf die gewandelten Bedürfnisse der Mitarbeitenden zuzugehen: Verweigern sich die Unternehmen dieser Entwicklung, bleiben die dringend benötigten Fachkräfte weg, so die Befürchtung.

Kein Abschied vom Leistungsgedanken

Letztlich geht es wohl auch TUI-Personalvorständin Sybille Reiß bei ihrem Votum gegen Überstunden darum, fähige Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. Auch Europas größter Touristikkonzern hatte laut Reiß nämlich lange Zeit mit einer vergleichsweise hohen Fluktuation zu kämpfen.

Dementsprechend sind die Themen Arbeitszeit und Flexibilität „das Wichtigste für uns, um Talente zu halten und besser zu sein als konkurrierende Arbeitgeber“, so Reiß. Das Leistungsprinzip gelte unabhängig davon unverändert: „Wir sind sehr flexibel im ,Wie` und ,Wo` man arbeitet, aber beim ,was`, also den Ergebnissen, ist der Anspruch natürlich hoch.“

Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.