Marina* arbeitete bis zur völligen Erschöpfung. Getrieben von Perfektionismus, ständigem Zeitdruck und paradoxerweise auch ihrer Angst davor, zur Arbeit zu gehen, ging sie ihrem Job nach. Fast in jeder wachen Minute, zwanghaft, wie auf Speed. Wie eine Heroinsüchtige habe sie ausgesehen, kommentierte später eine Freundin, als sie ein Foto von Marina sah. Das war entstanden, kurz bevor diese mit 30 Jahren in ihrem ersten Job einen Burnout hatte.
Der Vergleich passt ziemlich gut, denn Marina ist süchtig – nur nicht nach Heroin, sondern nach Arbeit. Ein Einzelfall ist sie nicht. Rund jeder und jede zehnte Berufstätige zeigt arbeitssüchtiges Verhalten, wobei Frauen und jüngere Menschen tendenziell eher exzessiv und zwanghaft arbeiten. Betroffen sind laut einer Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung zudem eher Führungskräfte auf den oberen Unternehmensebenen, Selbstständige und Mitarbeitende, die in kleinen Betrieben tätig sind. Dabei ist es schwer, die Sucht überhaupt greifbar zu machen.
Der Grund: „Eine Diagnosestellung gibt es bisher nicht“, sagt Kimberly Breuer, Psychologin und CEO des Mental-Health-Start-ups Likeminded. Und so behelfen sich Breuer und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des BIBB mit verschiedenen Indikatoren, die auf eine Arbeitssucht hinweisen können. Neben exzessivem und zwanghaftem Arbeiten fühlt sich eine arbeitssüchtige Person laut Breuer von ihrem Job mental und physisch belastet. Der oder die Betroffene ist häufiger krank und zieht sich aus jeglichen sozialen Situationen (auch im Büro) zurück. Pausen zur Erholung existieren für Arbeitssüchtige nicht, im Urlaub wird ebenfalls gearbeitet. Sie werden unruhig, machen immer mehr Fehler, werden emotional unkontrollierter.
Wie bei jeder Sucht brauchen Betroffene mit der Zeit eine größere Menge von ihrer gewählten Droge. „Arbeitssüchtige müssen immer mehr arbeiten, damit sie dasselbe fühlen“, sagt Breuer. Mehr Arbeit, die bei ihnen im Körper Hormone wie Dopamin, Adrenalin und Kortisol produziert, die sie in einen euphorischen, beflügelten Zustand versetzen.
Der eigene Wert hängt an der Arbeit
Auch wenn sich die Symptome und Ursachen von Einzelfall zu Einzelfall unterscheiden, gibt es Muster. So begründet sich die Sucht bei vielen Betroffenen in der Grundüberzeugung, mehr wert zu sein, weil man mehr arbeitet. „Sie denken, dass sie ihre Arbeit zu besseren Menschen macht und sie nur wahre Wertschätzung durch ihre Arbeit erhalten“, sagt Breuer. Auch bei Marina verschob sich die Wahrnehmung zu einem undefinierbaren Zeitpunkt. „Ich glaubte, mir mein Lebensrecht durch Arbeit beweisen zu müssen“, erinnert sie sich.
Treffen solche Glaubenssätze nun auf bestimmte Rahmenbedingungen im Unternehmen, ist das Nährboden für die Arbeitssucht. Und spätestens an dieser Stelle kann HR gezielt eingreifen. Aber wie?
Eine Befragung unter Arbeitssüchtigen aus dem Jahr 2017 zeigt jedenfalls, dass der Führungsstil im Unternehmen eine zentrale Rolle dafür spielt, ob Mitarbeitende eine Sucht entwickeln. Zwei Drittel der Befragten sagten seinerzeit, dass der Auslöser für ihre Arbeitssucht die Angst davor war, den Erwartungen ihrer Führungskraft nicht gerecht zu werden. Begünstigt wird die Sucht laut der Gruppe außerdem durch …
- eine Entgrenzung von Beruf und Freizeit
- flexible Arbeitszeiten und ständige Erreichbarkeit
- Arbeitsverdichtung und die Angst, dem beruflichen Druck nicht mehr gewachsen zu sein
- Existenzangst aufgrund der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens und die Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren.
„Je stärker der Druck des Marktes an die Beschäftigten weitergegeben wird und je freier Rahmenbedingungen ausgestaltet sind, desto stärker wird der Ausbruch der Sucht gefördert“, sagt Ulrike Meissner. Sie ist Professorin für nachhaltiges Personalmanagement an der Hochschule Fresenius und hat die Umfrage damals wissenschaftlich begleitet. Auf deren Basis hat sie Ratschläge für HR konzipiert, um mit dem Thema Arbeitssucht bestmöglich im Unternehmen umgehen zu können.
- Prüfen Sie Abwesenheiten aufgrund von Langzeit- und Kurzzeiterkrankungen hinsichtlich der typischen Arbeitssuchtsymptome.
- Überprüfen Sie regelmäßig: Welchen Einfluss üben die Führungskräfte auf die Belegschaft aus? Entspricht das der gewünschten Führungskultur?
- Hinterfragen Sie auch andere betriebliche Rahmenbedingungen regelmäßig – etwa indem Sie Mitarbeiterbefragungen durchführen.
- Wenn eine Person in Ihrem Unternehmen arbeitssüchtig ist, gehen sie ähnlich wie bei medizinisch anerkannten Süchten vor. Dafür sollte es in Ihrem Unternehmen einen Leitfaden geben.
- Erweitern Sie Ihre bestehenden Messinstrumente zur Gesundheit der Mitarbeitenden um den Aspekt Arbeitssucht.
Mögliche Gesprächseinstiege
Bei all diesen Empfehlungen ist es essenziell, das Gespräch mit der betroffenen Person zu suchen. Das kann laut Psychologin Kimberly Breuer gut eine Kollegin oder ein Kollege mit einem vertrauten Verhältnis zur mutmaßlich arbeitssüchtigen Person machen, die Führungskraft oder jemand aus der Personalabteilung. Wer auch immer ins Gespräch geht, wichtig sei: Aussagen wie „Du arbeitest zu viel“, sollten vermieden werden. Sie werden von dem Arbeitssüchtigen eher als Kompliment aufgenommen, sagt Breuer.
Stattdessen könne der Gesprächspartner oder -partnerin auf die negativen Konsequenzen der Arbeitssucht eingehen. Mögliche Formulierung wären dann etwa: „Mir ist aufgefallen, dass du derzeit Rückenschmerzen hast und dich vom Team zurückziehst. Wir möchten nicht, dass du irgendwann nicht mehr dieselbe Performance erbringen kannst, wie bisher.“ Auch könne der Gegenüber im Gespräch Fragen stellen. Etwa: „Hast du in der vergangenen Zeit einen Unterschied hinsichtlich deiner Gesundheit wahrgenommen?“
Pausen belohnen
Fragen seien nicht nur als Einstieg in die Kommunikation über die Arbeitssucht hilfreich, sondern auch im weiteren Verlauf der Krankheit. Vor allem, weil sie die süchtige Person wieder ein Stück weit mehr in die Selbstbestimmung führen. „Die Person soll wieder ein Kontrollerleben empfinden und merken: Das sind meine Regeln, nach denen ich mich richte“, sagt Breuer.
Generell könnten Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden mehr dazu ermutigen, in die Selbstreflexion zu gehen – unter anderem im Rahmen von Workshops. Eine interessante Fragestellung, die dabei bearbeitet werden kann, ist laut Breuer: „Was sind deine inneren Antreiber, die uns zugutekommen?“ Auch kann es laut der Psychologin helfen, das Belohnungssystem im Unternehmen zu überdenken. Wie wäre es beispielsweise, diejenigen zu belohnen, die regelmäßig Pausen machen und auf ihre mentale Gesundheit achten?
Schlussendlich können Kolleginnen und Kollegen, Führungskräfte und HR allerdings nur bedingt etwas tun, um Arbeitssucht zu lindern. „Der größte Teil der Sucht liegt in einem selbst“, sagt die Psychologin. Eine Psychotherapie sei deshalb auf jeden Fall nötig – alleine schon, um eine Ich-Identität zu entwickeln, die nicht nur an die Arbeit gebunden ist, sondern an mehrere Bereiche des Lebens.
Das bestätigt die arbeitssüchtige Marina. Regelmäßige Arbeitszeiten, kein Homeoffice und eine größtenteils auf Arbeitszeiten beschränkte Arbeitskommunikation machten es ihr leichter, nicht in alte Suchtmuster zu verfallen. „Das alleine würde mich bei Weitem aber nicht davon abhalten, meine Arbeitssucht auszuleben“, sagt sie. „Was ich brauche ist ein Genesungsprogramm, das sich mit den tiefen Ursachen meiner Arbeitssucht beschäftigt.“ Das hat sie auch in Form der Selbsthilfegruppe „Anonyme Arbeitssüchtige“ gefunden.
*Name von der Redaktion geändert
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.