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Wie steht es wirklich um den Krankenstand in Deutschland?

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Der Krankenstand in Deutschland ist im europäischen Vergleich außergewöhnlich hoch – und das muss sich ändern, um den Wohlstand der Bundesrepublik zu sichern. Diese Aussage kursierte in den vergangenen Wochen mit hoher Emotionalität durch die Medien. Allianz-Chef Oliver Bäte schlug die Wiedereinführung eines Karenztages vor und löste damit eine hitzige Debatte aus.


Eine Debatte, die – wie sich nun zeigt – auf einem wackligen Zahlenfundament steht. Neue Analysen und Einordnungen mehrerer Krankenkassen zeigen, dass der Krankenstand in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht durch ein Motivationstief der Mitarbeitenden und vermehrte Krankheitsfälle gestiegen ist, sondern durch Effekte unterschiedlicher Erhebungsmethoden der Krankschreibungen.

Woran liegt der Anstieg der Krankheitstage in Deutschland?

Von 2021 auf 2022 gab es durch ein neues elektronisches Meldeverfahren (eAU) einen sprunghaften Anstieg der registrierten Ausfallzeiten, heißt es vonseiten der DAK. Dadurch sprang der Krankenstand von 4,4 Prozent auf 5,5 Prozent – statistisch gesehen erstmal ein Rekord. Seitdem war er erst einmal geringfügig weiter gestiegen, bevor er im vergangenen Jahr sogar leicht zurückging.

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Lag der Krankenstand 2023 noch bei 5,5 Prozent, befand er sich 2024 bei den DAK-Mitgliedern bei 5,4 Prozent. Pro Kopf wurden bei den 2,4 Millionen bei der DAK versicherten Beschäftigten durchschnittlich 19,7 Fehltage im vergangenen Jahr festgestellt – ein Minus von 2,3 Prozent gegenüber 2023. Der Rückgang liegt laut den Zahlen vor allem daran, dass es weniger Fehltage wegen Atemwegsbeschwerden und Muskel-Skelett-Erkrankungen gab (minus acht beziehungsweise minus sechs Ausfalltage). Doch es gibt auch Krankheiten, die weiterhin ansteigen: So gab es einen Zuwachs von 5,7 Prozent bei den Fehltagen aufgrund von psychischen Erkrankungen.

Diesen Trend bestätigen Zahlen anderer Krankenkassen tendenziell. Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) hat zwar von 2023 auf 2024 einen Anstieg an Krankmeldungen verzeichnet, allerdings einen verschwindend geringen (204 Krankmeldungen pro 100 Mitglieder gegenüber 206). Der Grund für den Anstieg liege vor allem an psychischen Leiden und Muskel-Skelett-Erkrankungen, hieß es von seiten der Krankenkasse. Auch die KKH begründete den starken Anstieg von Fehltagen in der Vergangenheit mit der Einführung der eAU. Allerdings wirke sich der dadurch entstandene Effekt nur auf bestimmte Krankheitsausfälle aus. „Dieser Effekt hat sich vor allem bei Kurzzeitattesten im Zuge von Atemwegsinfekten bemerkbar gemacht, die Versicherte zuvor nicht eingereicht haben“, heißt es vonseiten der KKH. „Bei psychischen Erkrankungen dürfte dieser Effekt wiederum kaum zum Tragen kommen, da Depressionen und Co. langwierige Erkrankungen sind.“ Dementsprechend gibt die Krankenkasse Entwarnung bezüglich der generell gestiegenen Fehltage, aber nicht, was den Anstieg der mentalen Erkrankungen angeht.

Ähnlich sieht das der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse. „Die aktuelle Debatte über den hohen Krankenstand und mögliche Lösungen geht in die falsche Richtung“, sagt Jens Baas. „Statt über Ad-hoc-Lösungen für Beschäftigte mit kurzen Fehlzeiten zu diskutieren, sollten Arbeitgeber vielmehr die Langzeiterkrankten in den Fokus rücken.“ Und das sind überwiegend Menschen mit psychischen Erkrankungen. Mentale Probleme stellen den zweithäufigsten Grund dar, weshalb sich bei der Techniker versicherte Beschäftigte 2024 krankgemeldet haben.

Der häufigste Grund bleiben weiterhin Atemwegserkrankungen, auch wenn die Techniker ebenfalls in dieser Krankheitssparte einen Rückgang wahrgenommen hat – wie auch generell bei der Anzahl der Fehltage. Um Langzeiterkrankungen entgegenzuwirken, sollten sich Arbeitgeber darauf fokussieren, eine vertrauensvolle und wertschätzende Unternehmenskultur zu schaffen. „Generell gilt: Je zufriedener die Beschäftigten, desto niedriger auch der Krankenstand“, sagt der TK-Chef. Die Barmer Krankenkasse hat zwar eigenen Zahlen für 2024 noch nicht vollständig analysiert, kann aber laut einer Unternehmenssprecherin den Trend zu sinkenden Arbeitsunfähigkeitszahlen bestätigen.

Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich dar?

In den jüngsten Diskussionen rund um die Fehltage wurde immer wieder laut, dass die Abwesenheit aufgrund von Krankheit in Deutschland so groß ist wie in keinem anderen europäischen Land. Dabei wurde sich auf Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bezogen. Allerdings auf solche, die laut den Expertinnen und -Experten des IGES Instituts, welches für die DAK eine Analyse vorgenommen hat, keinen guten Vergleich zwischen den Ländern zulassen. So wurde bei besagten Zahlen die Anzahl der amtlich gemeldeten bezahlten Krankheitstage pro Jahr verglichen. Und ja, hier liegt Deutschland an der Spitze.

Das Problem an dem Vergleich dieser Daten: Laut DAK weichen die gemeldeten Krankheitstage von den tatsächlichen Krankheitstagen ab, auch weil es in wenigen Ländern in Europa ein obligatorisches, elektronisches Meldeverfahren gibt wie in Deutschland. Das führe zu einer Untererfassung bei den Fehlzeiten in vielen anderen europäischen Ländern. Dazu komme: In vielen Ländern gibt es für die Karenztage (die ersten Fehltage) kein Geld, solche Tage würden deshalb in der Statistik nicht beachtet. „Deutschland dagegen hat eine Art Vollerfassung, weil alle Ausfalltage bezahlt sind“, heißt es vonseiten der DAK.

Vergleichen ließen sich aber andere Zahlen der OECD. Und zwar solche aus einer Befragung der Länder, bei der gefragt wurde: Wie viel der wöchentlichen Arbeitszeit geht durch Krankheit anteilig verloren? Hier liege Deutschland mit 6,8 Prozent im oberen Mittelfeld. In Frankreich liege der Wert noch etwas höher, in Belgien und Schweden auf dem gleichen Niveau, in Österreich und den Niederlanden niedriger. „Diese zweite OECD-Studie ist für einen Vergleich der Länder sehr viel besser geeignet“, sagt IGES-Wissenschaftlerin Susanne Hildebrandt. „Es handelt sich um eine einheitliche Befragung in allen EU-Ländern, bei der unterschiedliche Meldeverfahren und Systemunterschiede bei der Entgeltfortzahlung und der Erfassung der Fehlzeiten ausgeglichen werden können.“

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Krankschreibung

Ist ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig, erhält er oder sie von der Arztpraxis dafür eine Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU-Bescheinigung), die umgangssprachlich auch Krankschreibung oder aufgrund der Papierfarbe „gelber Schein“ genannt wird. In Zukunft wird das Verfahren per eAU digital ablaufen.

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.