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Zeitarbeit: Überbetrieblicher Qualifizierungsverbund gestartet

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Einer der am häufigsten genannten Krisenbegriffe der letzten Zeit ist „der drohende Fachkräftemangel“. Dabei ist der Begriff gleich in zweierlei Hinsicht unpräzise. Zum einen ist der Mangel keine abstrakte „Drohung“ für die Zukunft. Er hat Deutschland längst erreicht, mit voller Wucht: 1,93 Millionen unbesetzte Stellen gab es nach einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Mitte des Jahres – Tendenz stetig steigend. Zum anderen beschränkt sich der Mangel nicht mehr nur auf die ausgebildeten Fachkräfte. Die Angebotslücke zieht sich quer durch alle Branchen und Qualifikationsebenen, vom Akademiker bis zum angelernten Fachhelfer.

Eine Branche an der Schnittstelle

Eine der Branchen, die dieser Trend in ihrem Kerngeschäft trifft, ist die Personaldienstleistung. „Wir spüren schon seit sehr langer Zeit, dass sich etwas verändert“, berichtet Marc Schüpferling von Add-on Personal & Lösungen. „Die Anfragen unserer Unternehmenskunden werden mehr – und sie werden dringlicher. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, Bewerber zu gewinnen. Und wer Arbeit sucht, bringt oft nicht die Kenntnisse mit, die aktuell gerade gefragt sind.“ Der Leiter der Unternehmensentwicklung des Nürnberger Personaldienstleisters sieht seine Branche aber durchaus in einer guten Position, dem Mangel an qualifizierten Kräften entgegenzuwirken und das eigene Geschäftsmodell auf eine stabilere Basis zu stellen. Add-on hat begonnen, selbst zu qualifizieren, mit guten Erfahrungen. „Als Dienstleister an der Schnittstelle zwischen Nachfrage und Angebot ist unsere Branche dafür optimal aufgestellt.“

Eine Idee entsteht

Im Austausch mit Benjamin Seehaus von der Agentur für Arbeit Nürnberg, der als Teamleiter im Arbeitgeberservice eng mit der örtlichen Personaldienstleistung vernetzt ist, entstand Ende 2021 die Idee, ein Pilotprojekt für eine gemeinsame Aktion zu starten – überbetrieblich und für alle offen, um möglichst viele Akteure ins Boot zu holen. „Viele Branchenvertreter wollen qualifizieren, bringen aber selbst nicht die Kapazitäten mit“, sagt Seehaus. Andere hätten bereits eigene Bildungsaktivitäten gestartet, können aber alleine nicht alle am Markt geforderten Qualifikationen abdecken. „Würden alle zusammenarbeiten, wären wir viel breiter aufgestellt“, ist er überzeugt.

Die Idee eines „Qualifizierungsverbunds Personaldienstleistung“ für die Metropolregion Nürnberg war geboren. Den Startschuss bildete Anfang 2022 eine Einladung der Arbeitsagentur an alle örtlichen Branchenvertreter zu einer gemeinsamen Kick-Off-Veranstaltung. „Die Resonanz war ausgezeichnet“, berichtet Seehaus. Mehr als 100 Teilnehmende vor Ort und remote folgten den Einladungen zu den ersten Sitzungen.

Stärker im Verbund

Seitdem hat der Verbund 15 eingeschriebene Mitglieder gewonnen (siehe Kasten), er wird flankiert von einem Netzwerk aus Partnern und Förderern: Es schlossen sich unter anderem Bildungsträger und Weiterbildungsinitiatoren, das Jobcenter sowie Kammervertreter an. Bundesweite Unterstützung kommt von der Stiftung Flexible Arbeitswelt, dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister BAP und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsfirmen IGZ.

Die Idee hinter der Initiative: Kein Personaldienstleister oder Bildungsträger kann die extreme Diversität des Arbeits- und Bildungsmarktes alleine abdecken. Im Verbund kann man viel mehr erreichen – das einzelne Unternehmen setzt Schwerpunkte, im Netzwerk wird die Expertise geteilt und der Aufwand auf viele Schultern verteilt. Die Einbindung der verschiedenen Stakeholder stellt sicher, dass das Netzwerk politisch gut eingebunden ist. Gleichzeitig garantiert die Agentur für Arbeit als Koordinator die Überbetrieblichkeit des Verbunds, dessen Mitglieder sich mittels eines gemeinsamen „Letter of Intent“ zur fairen, transparenten und vertrauensvollen Zusammenarbeit bekennen.

Zielgenaue Förderungen

Inzwischen ist der Verbund operativ gegangen. Im ersten Schritt haben die Teilnehmenden einige zentrale Mangelberufe identifiziert, die nun von Mitgliedern gemeinsam weitergebildet werden: „Mechatroniker/in“, „Elektroniker/in Betriebstechnik“ und „Berufskraftfahrer/in“. Auch kaufmännische Berufe sind in Vorbereitung.

Qualifiziert werden nicht nur arbeitssuchende Bewerber bei den Personaldienstleistern, sondern auch deren Bestandsmitarbeiter in der Überlassung. „Schließlich haben wir so viele fleißige und zuverlässige Mitarbeiter im Helferbereich, die noch viel mehr erreichen könnten, wenn sie den passenden Abschluss in der Tasche hätten“, ist Marc Schüpferling überzeugt. Die Teilnehmenden können bei der Zeitarbeitsfirma angestellt bleiben, während sie von einem Bildungsträger im Netzwerk qualifiziert werden.

Flankiert wird dies durch zielgenaue Förderprogramme. So können etwa Kosten, die bei der Durchführung von Bildungsmaßnahmen entstehen, ganz oder teilweise von der Arbeitsagentur oder vom Jobcenter übernommen werden, ebenso wie die Lohnkosten während einer abschlussorientierten Weiterbildung. „Die Fördertöpfe für die Qualifizierung und nachhaltige Integration von Arbeitskräften sind gut gefüllt. Wir vom Arbeitgeberservice beraten die Firmen gerne, wie man Mittel beantragt und zielgerichtet einsetzt, um die Menschen fit für den Arbeitsmarkt der Zukunft zu machen“, erklärt Benjamin Seehaus. Quasi als Kirsche auf der Torte stellt auch noch die Stiftung Flexible Arbeitswelten einen Bonus pro qualifiziertem Mitarbeitenden.

Ein Gewinnerthema für die Personaldienstleistung

Bleibt die Frage: Welche Motivation und Vorteile haben Personaldienstleister, Beschäftigte zu qualifizieren?

  1. Die Betriebe steigern die Lieferfähigkeit gegenüber ihren Kundenunternehmen, wenn sie mehr Mitarbeitende mit aktuell gefragten Qualifikationen in ihrem Portfolio haben.
  2. Auch der finanzielle Anreiz ist gegeben. Je höher qualifiziert Mitarbeitende sind, je stärker ihre Qualifikation am Markt nachgefragt wird, desto besser können sie vermittelt werden – also mit einem höheren Stundensatz bei der Arbeitsüberlassung oder, im Fall einer Direktvermittlung oder Übernahme, mit einer attraktiveren Provision.
  3. Das Thema trägt zur Mitarbeitergewinnung und -bindung bei. Ein Personaldienstleister, der sich um die Qualifizierung seiner Leute kümmert und ihnen aktiv Karrierechancen aufzeigt, beweist Wertschätzung und steigert seine Arbeitgeberattraktivität.
  4. Die Qualifizierungszeit kann auch als eine Art „erweitertes Onboarding“ für Bewerber betrachtet werden. Gerade für Arbeitssuchende, die aus einer längeren Erwerbslosigkeit kommen, ist der Sprung in die Vollbeschäftigung oft sehr groß. Eine zwischengeschaltete Bildungsphase mit integriertem Betriebspraktikum führt die Menschen behutsam wieder an das Arbeitsleben heran.
  5. Die in der Zeitarbeit manchmal entstehenden Lücken zwischen den Einsätzen können mit einer Bildungsphase produktiv genutzt werden. Mitarbeitende werden zielgerichtet für den spezifischen Bedarf des nächsten Unternehmens qualifiziert.

Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft

Nicht nur Zeitarbeitsfirmen profitieren vom Modell der Qualifizierung im Verbund:

  1. Es profitieren die sozialen Sicherungssysteme und die Träger der Arbeitslosenvermittlung. „Die Personaldienstleistung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem wertvollen Partner entwickelt“, schildert Seehaus seine Erfahrung bei der Agentur für Arbeit Nürnberg – vor allem bei der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, Geringqualifizierten und Menschen mit Migrationshintergrund, also mithin den am schwersten zu vermittelnden Zielgruppen.
  2. Die teilnehmenden Akteure der (Weiter-)Bildungslandschaft knüpfen wertvolle Kontakte in die Arbeitswelt, bekommen aktuelle Informationen zu gefragten Qualifikationen aus erster Hand und profitieren von der gebündelten Nachfrage und berechenbaren Teilnehmerzahlen für ihre Kurse.
  3. Die Unternehmenskunden der Personaldienstleister bekommen einen besseren Zugriff auf qualifiziertes Personal, ohne selbst den Aufwand eines eigenen Qualifizierungsangebotes angehen zu müssen.
  4. Nicht zuletzt profitieren davon die Menschen selbst, die durch den Qualifizierungsverbund weitergebildet werden. Sie werden höher qualifiziert, verdienen mehr Geld, können bessere, langfristigere und vor allem zukunftsfähige Arbeitsplätze erreichen.

Insofern gewinnen bei einem solchen Qualifizierungsmodell also Volkswirtschaft und Gesellschaft als Ganzes. Es werden Potenziale der Menschen gehoben, die vorher vielleicht unerkannt und unerschlossen waren. Es werden Netzwerke geknüpft und gemeinsame Erkenntnisse gesammelt. Und es werden in einem agilen Prozess Fachkenntnisse geschult für einen Arbeitsmarkt, der immer komplexere Kenntnisse verlangt. Hier sei als Beispiel etwa die Industrie 4.0 genannt, wo klassische Helferjobs durch automatisierte Prozesse ersetzt werden, die wiederum nur von ausreichend qualifizierten Kräften gesteuert und überwacht werden können.

Problem Tarifvertrag

So evident die Vorteile sind, liegt doch der Teufel im Detail. Ein Beispiel ist der Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche. Dort werden Mitarbeitende nach einer festen, ihrem aktuellen Qualifikationsniveau entsprechenden Tarifstufe entlohnt. Also beispielsweise nach Entgeltgruppe 2b mit einem Grundgehalt von 12,20 Euro die Stunde für (Helfer-)Tätigkeiten, für die eine fachspezifische Qualifikation erforderlich ist. Faktisch liegt der Stundenlohn aber meistens weit darüber, etwa durch Branchen- oder Schichtzulagen.

Info

Gehen die Mitarbeitenden dann aber in eine mehrmonatige geförderte Bildungsmaßnahme, fallen sie wieder zurück auf das Grundgehalt: „Das können sich viele, die sich auf die Zuschläge verlassen, um ihre Familie zu finanzieren, leider einfach nicht leisten.“ Statt in eine Weiterbildung zur Fachkraft – mit langfristiger Aussicht auf höheren Verdienst – zu investieren, lassen sie sich notgedrungen lieber in den nächsten Helferjob mit Zuschlägen vermitteln. „Ein Teufelskreis“, so Schüpferling, für den sich Add-on aber bereits einen möglichen Lösungsansatz überlegt hat. „Wir haben unseren Branchenverbänden BAP und IGZ vorgeschlagen, eine neue Qualifizierungsstufe in den Entgelttarifvertrag aufzunehmen.“

In dieser Stufe, so die Vision, könnten die Mitarbeitenden bereits während der Bildungszeit in den höheren, mit der Qualifizierung angestrebten Entgeltbereich eingestuft werden. „So würden wir einen kraftvollen Anreiz schaffen, um noch mehr Menschen für die Qualifizierung zu gewinnen.“

Rückenwind aus Berlin

Ob der Vorschlag aus Franken umgesetzt wird, wird sich zeigen. Über mangelnde Resonanz im politischen Berlin kann sich die Nürnberger Initiative aber ohnehin nicht beklagen. Beim Bundeskongress des Zeitarbeitsverbands BAP im Juli in Berlin berichtete Andrea Nahles, damals noch designierte, mittlerweile amtierende Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, von einem vorbildlichen Pilotprojekt, der „Qualifizierungsoffensive Personaldienstleister 2022 mit dem Ziel der Schaffung eines beispielhaften regionalen Qualifizierungsverbundes“. Die Initiatoren des Nürnberger Projektes spornt das an – und sie haben einen gemeinsamen Wunsch: „Zehn, zwanzig, hundert Qualifizierungsverbünde in ganz Deutschland – das wäre doch was!“ 

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Dieser Artikel erschien zuerst in unserem aktuellen Sonderheft „Zeitarbeit“. Darin finden Sie zahlreiche weiteren Informationen zu aktuellen Trends der Szene.