Viel zu viele Azubis und Unternehmen finden heutzutage nicht zusammen. Das geht erneut aus dem jüngsten nationalen Bildungsbericht hervor. Die Anzahl der unbesetzten Ausbildungsstellen steigt seit vielen Jahren fast durchgehend kontinuierlich an. Das liegt allerdings nicht nur an der bloßen Tatsache, dass weniger Menschen eine Ausbildung machen wollen, wie der Bildungsbericht zeigt. Er dient als Bestandsaufnahme der Lage des deutschen Bildungswesens und wird von einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen unter der Federführung des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) erarbeitet. Neben dem Stand der Schulbildung und der Entwicklung des Lehrpersonals wurde für den Bericht auch ausgewertet, wie sich die Berufsausbildung entwickelt.
Nachfrageaufschwung in 2023
Auf der Nachfrageseite setzt sich der abnehmende Trend an Bewerber und Bewerberinnen 2023 nicht weiter fort; gegenüber 2022 ist ein Plus von etwa 17.000 auf insgesamt gut 552.000 Bewerber und Bewerberinnen zu verzeichnen. Damit bleibt das Niveau allerdings deutlich hinter dem des Jahres 2019 von circa 599.000 zurück.
Dieser Rückgang ist dem Bericht zufolge vor allem demografisch bedingt. Der besonders starke prozentuale Rückgang von Ausbildungsstellenbewerber und -bewerberinnen mit (Fach-)Hochschulreife um 17 Prozent verweist allerdings auch auf Attraktivitätsverluste der dualen Ausbildung zugunsten eines Studiums in dieser Gruppe.
Angebot übersteigt erstmals Nachfrage
Im Gegensatz zur Nachfrage gab es bei dem Angebot von Ausbildungsstellen in den vergangenen Jahren seit der Finanzkrise zwar mehrmals einen deutlichen Anstieg, aber es ist dennoch – auch im Zuge der Corona-Pandemie – zu einem langfristigen Abbau betrieblicher Ausbildungskapazitäten gekommen. Wirtschaftliche Einbrüche und Unsicherheiten in Krisenzeiten sowie die schwierige Bewerbungslage führen laut Bericht dazu, dass vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen weniger ausgebildet wird. Während die Nachfrage aber erst 2023 wieder stieg, lag sie auf Seiten des Angebots bereits 2021 höher als im Vorjahr und wächst seitdem. Dies führte dazu, dass es seit 1995 erstmals wieder dazu kam, dass die Nachfrage nach Ausbildungsstellen höher als das Angebot war. Ein Grund dafür, dass es weniger neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge gab.
Diese Neuabschlüsse lagen bei allen Schwankungen immer sehr nah an dem Ausbildungsstellenangebot. Seit einigen Jahren, und zwar weit vor der Pandemie, entfernt sich die Anzahl der Vertragsabschlüsse von der Anzahl der ausgeschriebenen Stellen, und das obwohl die Nachfragekurve gar nicht so weit von der Angebotskurve weg ist. Sie sind sich eigentlich so nah wie seit 20 Jahren nicht mehr. Dennoch finden viele Ausbildungsinteressierte keinen Ausbildungsplatz. Dieses sogenannte Versorgungsproblem besteht vor allem in der Informatik. Gleichzeitig besteht nunmehr in steigendem Maße für Betriebe die Herausforderung, ihre vorhandenen Ausbildungsplätze zu besetzen. Dieses Besetzungsproblem besteht insbesondere bei Reinigungsberufen.
Drei Gründe für Passungsprobleme
Das gleichzeitige Auftreten von Versorgungs- und Besetzungsproblemen weist laut Bericht auf anhaltende Passungsprobleme auf dem dualen Ausbildungsmarkt hin. So sind in den Verkaufsberufen zum Beispiel Versorgungsprobleme festzustellen, die allerdings weniger mit einem Mangel an Ausbildungsstellen zusammenhängen als vielmehr mit einer fehlenden Passung zwischen Angebot und Nachfrage.
Die Studienautoren und -autorinnen benennen für diesen Mismatch drei Gründe: Die Probleme sind berufsfachlich, regional und/oder eigenschafts- beziehungsweise verhaltensbezogen. Berufsfachliche Probleme bedeutet grob gesagt, dass es am Beruf selbst liegt, dass es keine Passung gibt. Im Jahr 2023 war dies bei jeder dritten unbesetzten Ausbildungsstelle der Fall. Vor 15 Jahren war dies bei weniger als jeder zehnten unbesetzten Stelle das Problem. Das berufsfachliche Mismatch deutet dem Bericht zufolge unter anderem auf Probleme in der Attraktivität von Ausbildungsberufen und deren gesellschaftlicher Wertschätzung hin, die über das Berufsbildungssystem nicht gelöst werden können. Überproportional häufig blieben Ausbildungsstellen in Reinigungs-, Ernährungs- und Verkaufsberufen unbesetzt. In diesen Berufen gibt es ein geringes Einkommen in Verbindung mit ungünstigen Arbeitszeiten, geringen Aufstiegschancen und wenigen beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Dies schränkt die Attraktivität offenkundig ein. Auch eine fehlende Berufsorientierung kann zu berufsfachlichen Mismatches führen.
Auch die regionale Erreichbarkeit von Ausbildungsangeboten wirkt sich auf die Passung von Ausbildungsangebot- und nachfrage aus. Die regionalen Passungsprobleme sind von 20 Prozent im Jahr 2021 auf knapp 24 Prozent im Jahr 2023 gestiegen. Laut Bericht nimmt der Großteil der Auszubildenden (durchschnittlich 85 Prozent) in dem Bundesland eine Ausbildung auf, in dem er wohnt. Der Gesetzgeber erhofft sich durch eine neue Maßnahme, dass an einer Ausbildung Interessierte mobiler werden und auch in Kauf nehmen, dafür weiter wegzuziehen. Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“ hat die Bundesregierung eine Ausbildungsgarantie geschaffen, durch die Azubis neuerdings seit April dieses Jahres einen Mobilitätszuschuss beantragen können. Dabei werden von der Bundesagentur für Arbeit die Fahrtkosten für zwei Familienheimfahrten pro Monat im ersten Ausbildungsjahr übernommen. Ob eine Ausbildung außer Reichweite des Heimatortes dadurch wirklich attraktiver wird, kann noch nicht eingeschätzt werden.
Die richtige Ausbildung am richtigen Ort, und doch keine Passung
Nach wie vor am häufigsten (43 Prozent) treten Passungsprobleme aufgrund eines eigenschafts- beziehungsweise verhaltensbezogenen Mismatches auf. Das heißt Bewerbende und Betriebe kommen aufgrund zugeschriebener Merkmale (tatsächlich oder vermutet) oder unzureichender Suche nicht zusammen. Auch hier soll die bereits erwähnte Ausbildungsgarantie ansetzen, indem sie berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen enthält und Einstiegsqualifizierungen erleichtert.
Gesine Wagner ist hauptverantwortlich für die Themen Arbeitsrecht, Politik und Regulatorik und ist Ansprechpartnerin für alles, was mit HR-Start-ups zu tun hat. Zudem verantwortet sie die Erstellung der zahlreichen Newsletterformate sowie unser CHRO-Panel.