Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer dazu aufgerufen, sich um einen Job in Deutschland zu bemühen, und hat ihnen dafür einen offenen Brief geschrieben. „Seit Ausbruch des Krieges sind bereits 160.000 ukrainische Staatsangehörige in Deutschland in Beschäftigung gekommen. Nehmen auch Sie eine Arbeit auf!“, schreibt der Sozialdemokrat – und erntet dafür Kritik. Zum einen, weil die Worte aus Sicht einiger Wortmeldungen implizieren, dass es den Ukrainerinnen und Ukrainern an Motivation zum Arbeiten fehlt. Zum anderen, weil es eben nicht nur darauf ankomme, die Geflüchteten in irgendeinem Job unterzubringen, der unter ihrem Qualifikationsniveau liegt.
In dem Schreiben heißt es, Ukraine-Geflüchtete hätten seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022 Integrationskurse besucht und erste Kenntnisse der deutschen Sprache erworben. Nun sollten Sie den Schritt in den deutschen Arbeitsmarkt gehen. Denn: „In Deutschland werden dringend Arbeits- und Fachkräfte gesucht und Arbeitgeber stellen sich zunehmend auf ausländische Bewerberinnen und Bewerber ein.“ Von einer Integration in den Arbeitsmarkt würden auch die Geflüchteten selbst profitieren. So könnten sie Kolleginnen und Kollegen kennenlernen, ihr Deutsch und ihre Kompetenzen verbessern und Erfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt sammeln.
Nach dieser Überleitung macht Heil noch einmal auf den Job-Turbo aufmerksam, eine Maßnahme, die seit November 2023 Ukraine-Geflüchtete dabei unterstützen soll, schnellstmöglich einen Job in Deutschland zu bekommen. Sie besteht aus einem frühen Integrationskurs und Spracherwerb und einem engen Beratungsaustausch zwischen Geflüchteten und Jobcentern. Unterzeichnet haben den Brief auch der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Oleksii Makeiev, und der Sonderbeauftragte für die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, Daniel Terzenbach.
Ein Motivationsproblem?
Dass ein Brief dafür das richtige Mittel ist, um die Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer in den deutschen Arbeitsmarkt zu fördern, bezweifelt Yuliya Kosyakova, Forschungsbereichsleiterin Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung beim IAB. „Es liegt nicht an der fehlenden Motivation der Geflüchteten, dass bisher 21 Prozent der Frauen und 29 Prozent der Männer unter ihnen im Sommer 2023 in Deutschland erwerbstätig waren“, sagt Kosyakova. Vielmehr liege die geringe Teilhabe daran, dass zunächst die deutsche Sprache gelernt und die Abschlüsse anerkannt werden müssen. Außerdem seien viele Arbeitgeber den Ukraine-Geflüchteten keineswegs so offen gegenüber, wie Heil es impliziert.
Viele der Geflüchteten sind Frauen mit Kindern. Mütter, die kein perfektes Deutsch sprechen und ihre Qualifikationen von den deutschen Behörden noch nicht anerkannt bekommen haben, seien für zahlreiche Arbeitgeber keine optimalen Bewerberinnen. Wenn die Ukraine-Geflüchteten selbst nicht direkt in eine Anstellung gehen möchten, liege dies oft daran, dass besagte Tätigkeiten nicht ihren Qualifikationen entsprechen. „Viele wollen deshalb lieber erst ihren Sprachkurs beenden und ihre Abschlüsse anerkannt bekommen und so das nicht gerade günstige Leben in Deutschland finanziell bewältigen können“, sagt die IAB-Forscherin. Gleichzeitig dürfe man nicht vergessen: Geflüchtete kommen nicht für die Arbeit nach Deutschland, sondern weil sie Unterschlupf suchen und sich von traumatischen Erfahrungen erholen müssen.
Wann muten wir den Ukraine-Geflüchteten zu viel zu?
Sprache könne auch während der Tätigkeit erlernt werden und Integration gelinge so gut, impliziert derweil Heil in seinem Brief an die Ukraine-Geflüchteten. Prinzipiell stimme das, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl. „Neben einem Job Deutsch zu lernen und Kinder zu betreuen ist allerdings eine große Belastung.“ Mit diesem Weg sei das Risiko zu groß, dass Geflüchtete in Helfertätigkeiten stecken bleiben, denen sie auch ohne große Sprachkenntnisse und die Anerkennung ihrer Abschlüsse nachgehen können.
Wer in solchen Tätigkeiten festsitzt, sei nicht nur selbst langfristig frustriert und verlasse deshalb Deutschland, um in einem anderen Land einen besseren Beruf auszuüben. Vielmehr könne diese Person auch nicht das eigene volle Potenzial dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Und davon profitiere niemand. Statt Geflüchtete schnell in den nächstbesten Job unterzubringen, sollte sich der Anerkennungsprozess der Abschlüsse verschnellern, und Geflüchtete stärker durch die Jobcenter beraten werden. „Wir sollten keine Drucksituation schaffen, sondern auf die individuelle Situation des oder der Geflüchteten eingehen, das der Person innewohnende Potenzial sehen und sie dementsprechend an Arbeitgeber vermitteln oder Weiterentwicklung – zum Beispiel durch aufbauende Deutschkurse ermöglichen“, sagt Judith.
Druck laste derzeit auch auf der Bundesregierung. Nachbarländer wie Polen, die Niederlande und Dänemark verzeichnen relativ gesehen weitaus mehr Ukraine-Geflüchtete, die Teil des Arbeitsmarktes sind. In Deutschland leben derzeit 1,1 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, 716.000 davon sind im erwerbsfähigen Alter. Im November 2023 waren rund 21 Prozent von ihnen berufstätig – 113.000 in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, 36.000 in einem Minijob.
Laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit besuchten im Januar 2024 124.000 Ukrainer und Ukrainerinnen Integrationskurse. Rund 700 Unterrichtsstunden muss jede geflüchtete Person in Deutschland in diesem Rahmen absolvieren, bevor sie eine Tätigkeit aufnehmen kann. Zwei Drittel der sich aktuell noch in den Integrationskursen befindenden Personen werden Mitte 2024 diese wohl beenden und damit dem deutschen Arbeitsmarkt ein Stück weit mehr zur Verfügung stehen. Anders sieht es in Polen, den Niederlanden und Dänemark aus, wo der Spracherwerb keine Rolle spielt und es keine vergleichbaren Integrationskurse gibt. Dort sind zwei Drittel und mehr der Ukraine-Geflüchteten bereits Teil des Arbeitsmarkts.
Kurzfristiger oder langfristiger Erfolg?
Die Zahlen ließen sich aber nur schwer mit denen in Deutschland vergleichen, sagt Kosyakova vom IAB. In Polen sei die Sprachbarriere geringer, denn Polnisch und Ukrainisch sind sich sehr ähnlich. Zudem lebten dort bereits vor dem Ausbruch des Krieges zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer. Eine Integration sei deshalb weitaus leichter. In den Niederlanden wiederum gebe es einen Arbeitsmarkt, auf dem viel Englisch gesprochen wird, während es für den deutschen Arbeitsmarkt überwiegend deutsche Sprachkenntnisse brauche.
Zudem würden sich in den Niederlanden zahlreiche beschäftigte Ukraine-Geflüchtete in Helfertätigkeiten befinden – teilweise auch mit einer geringen Anzahl an Arbeitsstunden. Wer in den Niederlanden eine Stunde pro Woche arbeitet, gilt als erwerbstätig. Diese Jobs nehmen Ukraine-Geflüchtete dort an – wohl auch, weil sie nicht unbedingt Miete bezahlen müssen. Denn laut Kosyakova dürfen sie unbefristet in den Asyl-Unterkünften leben. „Ob das unbedingt günstiger für den Staat ist, ist fraglich, sagt die IAB-Forscherin. Generell ist sie davon überzeugt: „Man kann Menschen schneller in den Arbeitsmarkt bringen, das sind dann aber häufig schlechtere Beschäftigungsverhältnisse, die langfristig negative Konsequenzen für den Arbeitsmarkt haben könnten.“
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.