Die Menschen in Deutschland arbeiten zu wenig, heißt es immer wieder. Belegt wird das mit der Gesamtzahl der jährlichen Arbeitsstunden, die hierzulande in der Tat niedriger sind als in vielen anderen Ländern. Dass in Deutschland die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit hierzulande traditionell besonders streng ist, Dienst Dienst und Schnaps Schnaps zu sein hat, wird dabei gerne vergessen. Dass hier zudem insbesondere Frauen gerne mehr arbeiten würden, wenn es mehr (und bessere) Kinderbetreuung gäbe, ebenso.
Stattdessen hört man seit einiger Zeit besonders einen Vorschlag. Geht es unter anderem nach den Spitzen der Unionsfraktionen und -parteien, sollen Überstunden in Zukunft steuerlich begünstigt werden – oder gleich ganz steuerfrei sein.
Das Problem – oder eines der vielen – bei der Sache: Bei den meisten Menschen, die Überstunden machen, käme die Maßnahme gar nicht an. Denn seit Jahren werden deutlich mehr unbezahlte Überstunden abgeleistet als bezahlte. Für 702 Millionen zusätzlich zum eigentlich vereinbarten Gehalt geleistete Stunden gab es 2022 kein Geld, vor gut zehn Jahren waren es sogar mehr als eine Milliarde Stunden pro Jahr. Diese Diskussion muss all jenen, die diese Stunden geleistet haben, wie eine Farce vorkommen: Denn statt dass jetzt hier über Steuergeschenke diskutiert wird – wären sie ja schon froh, überhaupt Geld für die geleistete Zeit zu bekommen. Die Zahlen zeigen zudem, dass die finanzielle Entlohnung nicht der vorrangige Grund ist, wieso Menschen mehr arbeiten als abgemacht. Sondern wenn man es positiv sieht: intrinsische Motivation und Engagement. Oder wenn man es negativ sieht: Druck durch Führungskräfte, Kolleginnen und Kunden.
„Arbeitszeit darf acht Stunden nicht überschreiten“
Der Vorschlag ist aber nicht nur wirkungslos, er widerspricht auch zumindest dem Geiste des Arbeitszeitgesetzes. Denn dort steht klipp und klar: „Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten.“ Soll also durch den Vorschlag ein bestehendes Gesetz ausgehebelt werden? Oder sollen damit auch Teilzeitkräfte animiert werden, doch acht Stunden am Tag zu arbeiten? Was würde dann aber Vollzeitkräfte davon abhalten, ihre Stunden offiziell zu reduzieren, um leichter in den Genuss steuerbegünstigter Überstunden zu kommen?
Die acht Stunden stehen ja auch nicht aus Jux im Arbeitszeitgesetz. Denn man muss sich nicht besonders im Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) auskennen, um zu wissen, dass es nicht gesund ist, lange auf Verschleiß zu fahren, und dass sich Arbeitgeber mittel- und langfristig keinen Gefallen tun, ihre Mitarbeitenden zu exzessiven Überstunden zu überreden. Genau das aber könnte passieren, wenn es für sie auf einmal deutlich mehr Geld gäbe. Gerade jüngere Kolleginnen und Kollegen, die den Verschleiß noch nicht so spüren, die weniger private Verpflichtungen, aber mitunter trotzdem einen hohen Finanzbedarf haben, müssen hier vor dem eigenen Übermut geschützt – oder zumindest nicht noch ermutigt zu werden, über das Gesunde hinaus zu schuften. Die langfristige individuelle und auch organisationale Gesundheit wird es danken.
Kurzfristig verständlich
Kurzfristig ist es verständlich, dass sich Arbeitgeber wünschen würden, insbesondere ihre High Potentials dazu zu animieren, mehr zu arbeiten. Und dass diese sich wünschen würden, für die Überstunden besonders belohnt und nicht durch die Steuerprogression gefühlt noch bestraft zu werden. Doch eine Reduzierung der Abgaben hätte deutlich mehr Nachteile als Vorteile.
Die Zahl der gemeinschaftlich geleisteten Stunden jedenfalls – wenn man sie schon als Maßstab dafür nehmen möchte, wie viel gearbeitet wird – ließe sich an anderen Stellen viel besser, nachhaltiger und gesünder steigern. Durch eine bessere personelle Ausstattung von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zum Beispiel. Oder durch mehr Flexibilität, was Arbeitsort und -zeit angeht – zumindest dort, wo es möglich ist. Denn wenn sie könnten, würden Millionen Menschen hierzulande gerne mehr arbeiten. Selbst wenn sie dafür den vollen Steuersatz zahlen müssen.
Matthias Schmidt-Stein koordiniert die Onlineaktivitäten der Personalwirtschaft und leitet gemeinsam mit Catrin Behlau die HR-Redaktionen bei F.A.Z. Business Media. Thematisch beschäftigt er sich insbesondere mit den Themen Recruiting und Employer Branding.