In den neuen Bundesländern verdienen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger Gehalt als im Westen. Die Lohnlücke liegt seit vielen Jahren – je nach Datengrundlage und Methode – zwischen zehn und 20 Prozent. Professor Dr. Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) erläutert, welche Rolle die Arbeitsproduktivität und der historische Kontext spielen.
Comp & Ben: Herr Professor Dr. Müller, seit rund 35 Jahren existiert ein Lohngefälle zwischen Ost und West. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern verdienen weniger Gehalt als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Die Lohnlücke liegt – je nach Datengrundlage und Methode – zwischen zehn und 20 Prozent. Wie ist das zu erklären?
Prof. Dr. Steffen Müller: Wir leben in einer Marktwirtschaft, in der sich Löhne am Markt bilden. Löhne wiederum orientieren sich an der Arbeitsproduktivität. Wenn wir also über Entgeltunterschiede sprechen, müssen wir zwingend auf die Produktivität schauen. Zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 lag die Arbeitsproduktivität im Osten auf einem Viertel des Westniveaus. Bis Mitte der 90er-Jahre haben wir stark aufgeholt auf 70 Prozent. Seit 2010 geht es nun kontinuierlich immer weiter Richtung Westniveau; die Konvergenz ist langsam, aber sie funktioniert. Momentan haben sich die neuen Bundesländer mit 80 bis 85 Prozent dem Westniveau an Produktivität angenähert, was sich auch in den Löhnen widerspiegelt.
Warum ist die Arbeitsproduktivität im Osten noch immer geringer als im Westen?
Dazu müssen wir auf die Definition von Arbeitsproduktivität schauen, die häufig falsch verstanden wird. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene werden Arbeitseinsatz und Produktionsergebnis ins Verhältnis gesetzt: Produktivität ist die Wertschöpfung minus Vorleistung. Bei ostdeutschen Unternehmen, die lokale Produkte oder Dienstleistungen anbieten, sind die Preise niedriger, da im Osten die Kaufkraft geringer ist. In den Daten zeigt sich dann eine geringere Arbeitsproduktivität. Diese bedeutet aber in keiner Weise, dass die Beschäftigten weniger engagiert, qualifiziert oder fleißig wären. Das betone ich immer wieder, weil das sehr oft missverstanden wird. Die durchschnittlichen Qualifikationen und Bildungsabschlüsse sind genauso hoch wie im Westen, sie waren 1990 sogar höher als in den alten Bundesländern.
„Die Angleichung der Arbeitsproduktivität und der Löhne wird sich kontinuierlich wie in den vergangenen drei Jahrzehnten fortsetzen.“
Professor Dr. Steffen Müller, Leiter Abteilung Strukturwandel und Produktivität, vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle
Wo liegen die tieferen Ursachen für die geringere Produktivität?
Wir müssen auf die Branchenstruktur und die Größe der Unternehmen schauen. Die große Mehrheit – mehr als 80 Prozent der Betriebe im Osten – sind in ostdeutschem Eigentum, und mehr als 70 Prozent der Beschäftigten im Osten arbeiten in einer dieser Firmen. Darunter haben wir gute Unternehmen, die produktiver sind als der deutsche Durchschnitt, aber eben auch noch viel mehr schwache. Das ist historisch bedingt.
Also ein wirtschaftliches Erbe der DDR?
Die Startposition im Jahr 1990 war für viele Betriebe sehr schwer, sie hatten keine marktfähigen Produkte, und die Gewerkschaften haben die Löhne schnell nach oben getrieben. Aber die Firmen mussten überleben, und etliche haben auf Billigstrategien gesetzt. Hinzu kommt, dass man eine Arbeitslosigkeit von 20 Prozent bekämpfte, indem man Arbeitsplätze subventionierte, die der Markt sonst nicht geschaffen hätte. Insgesamt subventionierte der Staat den Erhalt der industriellen Basis Ostdeutschlands in den vergangenen drei Jahrzehnten mit Milliardensummen und hielt auf diesem Weg auch ineffiziente, nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen am Leben. Das waren und sind dann in der Regel nicht die produktivsten Arbeitsplätze.
Inzwischen haben sich westdeutsche und internationale Unternehmen mit ihren Werken in den neuen Bundesländern angesiedelt, zum Beispiel der chinesische Batteriehersteller CATL in Thüringen, und mit dem taiwanesischen Halbleiter konzern TSMC kommt ein weiteres großes Unternehmen. Zeigt das keinen Einfluss auf die Produktivität?
Die Niederlassungen großer Konzerne wie beispielsweise Volkswagen, Siemens oder BMW stellen nur einen kleinen Teil der Arbeitgeber dar. Wenn diese Unternehmen im Osten ein Werk gründen, dann ist es oft eine reine Produktionsstätte mit der gleichen Arbeitsproduktivität wie in den alten Bundesländern. Hier liegen die Löhne nah am Westniveau, aber eben hauptsächlich in den unteren, geringer entlohnten Funktionsbereichen. Gleichzeitig sitzen im Osten keine Zentralen von Großkonzernen, in denen die Spitzenjobs angesiedelt sind wie zum Beispiel in der Verwaltung, im Marketing, in Forschung und Entwicklung und im Management. Das hat auch Auswirkungen auf das Lohngefälle zwischen Ost und West: Der Pay Gap ist in der Regel nicht getrieben von einfachen Jobs, sondern von den Top-Jobs, die in den neuen Bundesländern viel weniger vorhanden sind.
Können Sie Beispiele nennen?
Beispielsweise betragen in der Industrie und im ITK-Bereich die Ostlöhne teilweise nur zwei Drittel der Westlöhne. Man muss bei der Ausgangsfrage nach der Produktivität aber auch berücksichtigen: Die westdeutsche Industrie ist vielerorts immer noch Weltspitze. Daher vergleicht man die neuen Bundesländer mit einer der wirtschaftsstärksten Regionen der Welt. In den marktferneren Branchen, also in der öffentlichen Verwaltung und im Bereich Erziehung und Bildung, sind die Löhne auch per Tarifvertrag ähnlich hoch wie die Westlöhne.
Comp & Ben: Mit anderen Worten: Wir müssen das Entgeltgefälle differenziert betrachten. Es beruht nicht auf einer Lohndiskriminierung seitens der Arbeitgeber, es liegt auch nicht an einer schlechteren Qualifikation der Arbeitskräfte, sondern an der Wirtschaftsstruktur.
Genau, das zeigen auch die regionalen Daten für Gesamtdeutschland. Gehaltsunterschiede zwischen Bundesländern sind zum Teil normal. Auch in den westdeutschen Bundesländern gibt es Lohn-Gaps zwischen den Regionen (Anmerkung der Redaktion: siehe Grafik). Schauen wir auf den Median der monatlichen Bruttoarbeitsentgelte in Baden-Württemberg mit 4134 Euro und Schleswig-Holstein mit 3526 Euro, dann stellen wir fest, dass ihr Pay Gap größer ist als das zwischen Schleswig-Holstein und Sachsen mit 3182 Euro. Dennoch fragt sich keiner, warum in Schleswig-Holstein die niedrigsten Medianentgelte in Westdeutschland gezahlt werden. Zudem haben seit vielen Jahren das Saarland und Schleswig-Holstein zehn Prozent geringere Löhne als Bayern und Baden-Württemberg. Beim Thema Lohnabstand wird immer wieder der Osten angeführt. Das ist teilweise verständlich, weil das Lohngefälle in allen ostdeutschen Bundesländern unter dem Medianentgelt im Westen liegt, aber hier besteht eben ein historischer Kontext.
Laut Agentur für Arbeit verdienten Frauen in den neuen Bundesländern im Jahr 2024 im Median mehr als Männer: 3391 Euro gegenüber 3295 Euro. Auch ist nach wie vor der unbereinigte GenderPayGap in Ostdeutschland mit sieben Prozent im Jahr 2023 deutlich kleiner als in Westdeutschland, wo er bei 19 Prozent lag. Viele verbuchen das als frauenfördernde beziehungsweise diskriminierungsfreie Entgeltpolitik. Wie belastbar ist diese Interpretation?
Ein Großteil des unbereinigten Gender-Pay-Gaps in Gesamtdeutschland lässt sich damit begründen, dass Frauen häufiger in Teilzeit und in schlecht bezahlten Berufen arbeiten. Ein kulturelles Erbe im Osten der Republik ist dagegen die Vollzeitberufstätigkeit der Frauen: Sie arbeiten seltener in Teilzeit und sind auch mit Kindern häufiger ganztags berufstätig. Nach IAB-Angaben ist ein Drittel der westdeutschen Frauen mit Kindern in Vollzeit tätig, in Ostdeutschland sind es mit 92,5 Prozent fast dreimal so viele. Das erklärt zum Teil, dass es keine Lohnlücke zwischen Frauen und Männern gibt. Darüber hinaus ist der Gender-Pay-Gap im Osten aber auch deshalb geringer beziehungsweise nicht vorhanden, weil zum Beispiel die besser bezahlten Industriejobs für Männer fehlen. Die Frauen in den neuen Bundesländern arbeiten häufig im öffentlichen Dienst, ähnlich wie Frauen im Westen, und auch mit den annähernd gleichen Gehältern.
Prognosen sehen für den Osten doppelt so hohe Wachstumschancen wie für den Westen. Kann das bedeuten, dass die Lohnabstände bald der Vergangenheit angehören?
Die Wachstumsprognosen sind immer sehr kurzfristig auf das kommende Jahr ausgelegt. Die aktuellen Prognosen beruhen darauf, dass die Wirtschaft in den alten Bundesländern eine Schwäche zeigt, weil der Welthandel lahmt und Westdeutschland exportabhängiger ist. Daher bestehen derzeit im Osten bessere Wachstumschancen. Ob sich das längerfristig auf die Arbeitsproduktivität und die Löhne auswirkt, bleibt offen. Wahrscheinlich ist, dass sich die Angleichung der Arbeitsproduktivität und der Löhne langsam, aber kontinuierlich, wie in den vergangenen drei Jahrzehnten, fortsetzen wird.
Wie werden sich Arbeitsproduktivität und Löhne in den neuen Bundesländern in den kommenden zehn Jahren entwickeln? Bleibt der Osten die verlängerte Werkbank des Westens?
Der Arbeits- und Fachkräftemangel wird im Osten viel dramatischer ausfallen als im Westen. 1990 war die Gesellschaft in den neuen Bundesländern jünger als in den alten. Aber viele junge Menschen sind in den Westen abgewandert. Wir haben Regionen im Osten, in denen in den nächsten Jahren 30 Prozent der Erwerbstätigen in Rente gehen. Die Unternehmen werden viel stärker um die Beschäftigten kämpfen müssen, was sich auch in steigenden Löhnen widerspiegeln wird. Diesen Wettbewerb um die Besten können aber nur die Firmen gewinnen, die produktiv genug sind. In der Marktwirtschaft bedeutet das: Unrentable Geschäftsmodelle werden sich nicht mehr halten, was dazu führt, dass auch die Arbeitsproduktivität steigt.
Woher sollen die rentablen Geschäftsmodelle kommen?
Ich setze meine Hoffnung in den Strukturwandel. Durch Robotik und Digitalisierung gibt es neue Produkte und Fertigungsmethoden. Wenn die Wirtschaft im Umbruch ist, fällt es aufholenden Regionen leichter, in neuen Produktlinien vorne mitzuspielen. Schwerer ist es, in etablierten Märkten den Spitzenreiter einzuholen. Ich gehe davon aus, dass in zehn Jahren die neuen Bundesländer das Lohnniveau von Ländern wie Schleswig-Holstein oder dem Saarland erreichen werden.
Christiane Siemann ist freie Wirtschaftsjournalistin und insbesondere spezialisiert auf die Themen Comp & Ben, bAV, Arbeitsrecht, Arbeitsmarktpolitik und Personalentwicklung/Karriere. Sie begleitet einige Round-Table-Gespräche der Personalwirtschaft.